Herr Lehrer, am 9. November jährt sich die »Reichspogromnacht« zum 80. Mal, in der in ganz Deutschland jüdische Häuser und Synagogen niedergebrannt wurden. Wie ist heute die Gefühlslage der Juden in Deutschland?
Wir sind besorgt über den sich ausbreitenden Antisemitismus. Mir begegnen noch immer alte Ressentiments nach dem Motto »die Juden beherrschen das Fernsehen und die Banken- und Finanzwelt«. Regelrecht geschockt hat mich der Umgang der Behörden mit einem Neonazi-Aufmarsch vor einigen Wochen in Dortmund. Dort konnten Teilnehmer einen neuen Nationalsozialismus fordern und Parolen wie »Wer Deutschland liebt, ist Antisemit« skandieren, ohne dass die Polizei einschritt. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sah anschließend keine Versäumnisse und die Staatsanwaltschaft vertrat anfangs die Auffassung, es habe sich nicht um Antisemitismus gehandelt. Dass so etwas möglichst ist, erinnert an Zeiten wie am Ende der Weimarer Republik. Eine solche Versammlung hätte sofort aufgelöst werden müssen. Der Vorfall zeigt, dass wir zu wenig geschulte Polizisten haben, die auf Antisemitismus schnell und angemessen reagieren.
Die Zahl antisemitischer Straftaten ist im vergangenen Jahr leicht gestiegen. Bei den rechtsextremen Ausschreitungen Ende August in Chemnitz wurde auch ein jüdisches Restaurant angegriffen. Ist das eine neue Qualität von antijüdischer Gewalt?
Das würde ich nicht sagen, es gab auch in den Monaten zuvor gewaltsame Angriffe auf Juden. Aber diese Fälle werden mehr und die zeitlichen Abstände dazwischen geringer. Jeder Fall ruft zudem Nachahmer auf den Plan.
Ist auf Vorfälle wie in Chemnitz und Dortmund angemessen reagiert worden?
Es gab an beiden Orten zwar Gegenkundgebungen. Ich vermisse aber insgesamt, dass ein Ruck durch die Gesellschaft geht und sich eine Vielzahl von Bürgern den Rechten mit Demonstrationen und Menschenketten entgegenstellt. Warum hat die Chemnitzer Oberbürgermeisterin nicht zu so etwas aufgerufen?
Für die Zunahme des offenen Rechtspopulismus steht in Deutschland die AfD. Ist sie eine antisemitische Partei?
Zumindest schafft sie ein Terrain, auf dem Antisemitismus wachsen und offen auftreten kann. Die Partei wendet sich beispielsweise im Entwurf ihres Parteiprogramms gegen Beschneidung und Schächten. Radikale Vertreter wie Björn Höcke sprechen relativierend über den Holocaust und werden augenscheinlich von einer breiten Mehrheit gestützt. Die AfD ist eine Art Katalysator für verschiedene Gruppen mit antisemitischen Wurzeln. Sie verletzt bewusst Grenzen und trägt auf diese Weise dazu bei, dass antisemitische Haltungen als normal betrachtet werden.
Über 90 Prozent der antisemitischen Straftaten in Deutschland werden von rechtsgerichteten, nichtmuslimischen Bürgern verübt. Ist die jüngste Flüchtlingszuwanderung aus islamisch geprägten Ländern aus jüdischer Sicht dennoch ein Problem?
Das Problem eines zugewanderten arabisch-islamischen Antisemitismus steht uns noch bevor. Viele dieser Menschen wurden geprägt von Regimes, in denen Antisemitismus zur Staatsräson gehört und dem jüdischen Staat das Lebensrecht abgesprochen wird. Wenn diese Menschen nicht mehr nur an Job und Wohnungssuche denken, wird sich diese Prägung stärker auswirken und die Menschen werden ihre Meinung offen äußern. Um diesem Szenario vorzubeugen, müssen wir die Integrationskurse viel stärker auf diese Menschen zuschneiden, am besten differenziert nach Herkunftsländern. Nötig sind zusätzliche Stunden, in denen grundlegende Werte wie Demokratie und der Umgang mit Frauen in unserer Gesellschaft intensiv vermittelt werden.
Zeitzeugen des Holocaust wird es bald nicht mehr geben. Wie kann man heute die Erinnerung am besten wachhalten?
Dafür gibt es kein Patentrezept. Die Erfahrung zeigt aber, dass direkter Kontakt der beste Weg ist, um Vorurteile auszuräumen. Die sogenannte zweite Generation, also die Nachkommen der Überlebenden, kommen jetzt in die Rolle der Zeugen.
Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat verpflichtende Besuche in Gedenkstätten im Rahmen des Schulunterrichts vorgeschlagen. Ist das wirklich eine gute Idee?
Es geht uns bei diesem Vorschlag nicht um Zwang, sondern darum, dass möglichst viele junge Menschen in Auschwitz oder anderen Gedenkstätten einen persönlichen Eindruck von der Zeit des Holocaust bekommen. Sinnvoll wäre auch, Fahrten zu Gedenkstätten attraktiver zu machen und finanziell zu fördern.
Sollten alle Bundesländer einen Antisemitismusbeauftragten bekommen?
Das wäre wünschenswert. Eine solche Einrichtung ist ein Zeichen an die Bevölkerung, dass sich die jeweilige Regierung um Antisemitismus kümmert und diesem Thema besondere Aufmerksamkeit widmet. Ein Beauftragter kann zudem die Befassung mit Judenhass in den verschiedenen Ressorts und Abteilungen koordinieren.
Wann wäre eine völlige Normalität jüdischen Lebens in Deutschland erreicht?
Wenn vor jüdischen Einrichtungen kein Polizeiwagen mehr stehen müsste.
Das Interview mit dem Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden und Vorstandsmitglied der Synagogen-Gemeinde Köln führte Ingo Lehnick.