Herr Lazaris, Griechenland hat seit dem 1. April für ein Jahr die Präsidentschaft der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) übernommen. Wie war die Reaktion in Ihrem Land darauf?
Ich muss da unterscheiden, nämlich zwischen einer persönlichen und einer politischen Antwort. Beide, das vorab, fallen sehr gut aus. Ich persönlich fühle mich geehrt und stolz, für ein Jahr der Präsident der IHRA sein zu dürfen. Das ist aber nicht so wichtig. Viel entscheidender ist die politische und öffentliche Wahrnehmung in Griechenland. Dass nämlich der Ministerpräsident Griechenlands, Kyriakos Mitsotakis, in äußerst bemerkenswerter Art und Weise die Übernahme der Präsidentschaft so kommentiert hat: »Es ist unsere Pflicht, die Holocaust-Geschichte zu erzählen, in Erinnerung zu halten und zu lernen, sie nie, nie zu vergessen.«
Solche deutlichen Statements sind in Griechenland ja eher außergewöhnlich. Nicht selten wurde in der Vergangenheit vielmehr der Eindruck vermittelt, dass der Holocaust und seine Aufarbeitung in der öffentlichen Wahrnehmung keine so bedeutende Rolle spielen.
Das stimmt, oder besser: Das stimmte. Es gilt nämlich jetzt, auch und gerade durch unsere Präsidentschaft, dies nachhaltig zu ändern. Griechenland, das ist leider nur wenig bekannt, ist ein vom Holocaust schwer gezeichnetes Land. In den Jahren der Besatzung durch Nazideutschland 1943/44 wurde die jüdische Bevölkerung unseres Landes fast vollständig in die Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz und Treblinka deportiert. Wir sprechen hier von mehr als 60.000 Jüdinnen und Juden, davon allein 46.000 aus Thessaloniki.
Wie ist die aktuelle Situation bezüglich Antisemitismus in Griechenland?
Der Antisemitismus ist in unserem Land, ich sage es einmal so, relativ überschaubar. Gegen viele Funktionäre der rechtsextremen und antisemitischen Partei Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) sind die Rechtsverfahren abgeschlossen und die Urteile gefällt. Die sitzen nun verurteilt zu langen Haftstrafen in den Gefängnissen, die Partei wurde als kriminelle Vereinigung eingestuft und verboten. Es gibt in Griechenland zum Glück keine tätlichen Angriffe gegenüber Menschen jüdischen Glaubens oder ihrem Eigentum. Dennoch: Erst im März wurde wieder ein Mahnmal für die Opfer des Holocaust geschändet. Auch das gehört zur Wahrheit.
Lassen Sie uns einmal den Blick über Griechenland hinaus werfen. Was sind Ihre Ziele als IHRA-Präsident?
Kern der Präsidentschaft wird das sein, was wir »Teaching and Learning Holocaust« nennen. Zum Beispiel sind in Griechenland zukünftig für alle Schulen Curricula verpflichtend, die die Aufklärung der Schüler über die Zeit des Holocaust beinhalten. Das haben wir in Zusammenarbeit mit dem griechischen Erziehungsministerium bereits erreicht. Wir werden uns als IHRA dafür einsetzen, das Projekt weiter international zu forcieren, vielleicht sogar in Zusammenarbeit mit der UNESCO. Zum anderen werden wir das Phänomen »Social Media« angehen!
Was meinen Sie genau damit?
Ich weiß, das ist ein äußerst komplexes Thema. Aber gerade in den Tiefen des Internets, in den sozialen Medien, ist der Nährboden für Antisemitismus und die Leugnung des Holocaust auf vielfältige Art und Weise gegeben. Besonders für junge Menschen bedeutet das eine große Gefahr, auf Lügen und Stereotypen bezüglich Minderheiten hereinzufallen oder sich zumindest dahingehend beeinflussen zu lassen. Das wollen und müssen wir, wenn möglich schon präventiv, verhindern. Zum Beispiel durch vielfältige digitale Lernprojekte und immer wieder Aufklärung. Dafür werden wir im März 2022 einen großen Kongress in Griechenland veranstalten. Auf dem sollen dann zahlreiche Experten zusammenkommen und sich über passende Strategien gegen Antisemitismus im Netz austauschen.
Unter der Präsidentschaft Deutschlands, quasi Ihr Vorgänger, wurden auch neue Akzente gesetzt. Inwiefern wird das weitergeführt?
Ich setze natürlich auch auf Kontinuität. Beispielsweise hat Deutschland das Problem des Antiziganismus auf die Agenda der IHRA gesetzt. Das ist so etwas wie ein gutes Erbe der letztjährigen deutschen Präsidentschaft. Das war und bleibt weiterhin, auch für mich persönlich, ein äußerst wichtiges Thema. Die Situation der Roma und Sinti verschlechtert sich in allen Ländern dramatisch. Wir müssen die Arbeit gegen Diskriminierung und Rassismus gegenüber diesen Menschen fortführen, wenn möglich noch intensivieren. Zudem bleibt es unser Ziel, die Zeitzeugenprojekte, dort, wo es noch möglich ist, zu fördern. Und wir werden weiterhin auf eine sehr enge Zusammenarbeit mit Israel setzen.
In jüngster Zeit wurde Kritik an der IHRA-Definition von Antisemitismus laut. Unter anderem gab es eine von 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterzeichnete »Jerusalemer Erklärung«, die die Definition als »viel zu vage« bezeichnete. Vorgeworfen wurde der IHRA-Definition auch, sie schränke die Kritik an der Politik Israels ein.
Es ist nicht meine Aufgabe, über andere Definitionen von Antisemitismus zu urteilen oder sie zu kommentieren. Ich sage aber auch, es ist eine für mich vornehmlich akademische Diskussion, die sich da aktuell abspielt. Wir können jedenfalls, Stand jetzt, mit der von uns entwickelten Definition sehr gut arbeiten. Ich rufe sie auch deshalb noch einmal in Erinnerung: »Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann.«
Mit dem griechischen IHRA-Vorsitzenden und Diplomaten sprach Torsten Haselbauer.