Mehr als 1000 Ermordete. Verwüstung und Brandschatzung. Familien – brutal auseinandergerissen. Ich könnte hier vom 9. November 1938 sprechen – der Reichspogromnacht.
Ich könnte aber auch vom Pogrom unserer Zeit sprechen; vom grausamen Terror der Hamas des 7. Oktober 2023. Die Beschreibungen gleichen sich.
Wer verstehen will, was Jüdinnen und Juden in diesen Tagen fühlen, der muss sich der historischen Pogromerfahrungen im jüdischen Denken bewusst sein. Die Jagd auf Juden, dort wo sie zu Hause sind, brennt sich tief ein in das kollektive Bewusstsein von Jüdinnen und Juden.
TRAUMATA Wer verstehen will, warum der Terroranschlag auf Israel in der jüdischen Gemeinschaft auch in Deutschland tiefe Traumata, Ängste und Verunsicherungen hervorruft, der muss sich bewusst sein, was auch 85 Jahre nach der Reichspogromnacht in den jüdischen Seelen vorgeht, wenn wieder Davidsterne an Häuser von Juden gemalt werden, wenn wieder jüdische Geschäfte attackiert werden. Wenn wieder Brandanschläge auf Synagogen verübt werden – wie vor wenigen Wochen hier in Berlin auf die Beth Zion Synagoge.
Er muss sich bewusst sein, was in den Köpfen vorgeht, wenn ein Mob durch die Straßen zieht und die Vernichtung Israels und die Auslöschung aller Juden fordert. Wenige Stunden nach dem grausamsten Verbrechen an Juden seit der Schoa.
Es ist der Versuch, gezielt diese Ängste zu erzeugen. Auch um das zu verstehen, ist die Erinnerung und das Gedenken an den 9. November 1938 so wichtig.
Diesen Einschüchterungsversuchen zu widerstehen gelingt nicht immer. Viele Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Deutschland haben diese Pogrom-Erfahrungen noch viel präsenter, waren doch Jagdszenen, wie wir sie vor wenigen Tagen von einem Flughafen im russischen Dagestan gesehen haben, in der Zeit während des Zerfalls der Sowjetunion nicht unüblich.
Die Hamas-Ideologie der Vernichtung kennt keine Grenzen.
Diese Bilder waren verstörend, zeigen sie doch eindeutig, dass die Vernichtungsideologie der Hamas keine Grenzen kennt. Wer zum Tag des Zorns gegen Juden aufruft, dem geht es nicht nur um Israel.
Die Bilder aus Dagestan erscheinen weit weg. Oder auch nicht? Der Schutz jüdischen Lebens in Deutschland ist hoch. Das ist wohl der größte Unterschied zu 1938: Wurde die Gewalt damals von den Nationalsozialisten geschürt, schützt heute der Staat die jüdische Gemeinschaft. Es ist eine Botschaft, die auch bei den Jüdinnen und Juden in Deutschland ankommt, und dafür möchte ich Ihnen an diesem Tag und an dieser Stelle danken.
Aber ist es nicht denkbar, dass eine solche Jagd auf Juden in einem solchen Rahmen auch in Deutschland stattfindet? Ein Mob, aufgehetzt durch Fanatiker, die offen Hass schüren; auf TikTok, Telegram? Vor fünf Wochen hätte ich Ihnen noch gesagt, dass ich mir das nicht vorstellen kann, heute bin ich mir dabei nicht mehr so sicher. Wie weit sind wir davon entfernt, wenn ich die Bilder vom Brandenburger Tor vom Abend des 17. Oktober sehe und nur wenige Stunden später den Anschlag mit Molotowcocktails auf diese Synagoge, in der wir gerade sitzen? Schutz kann nie absolut sein, bei allen Bemühungen.
AUSLÖSCHUNG Meine Damen und Herren, ich erkenne in den vergangenen Wochen zuweilen dieses Land nicht wieder. Es wurde zugelassen, dass es sagbar erscheint, öffentlich die Vernichtung Israels und die Auslöschung aller Juden zu propagieren. Es wurde zugelassen, dass sich Tausende Menschen mit arabischem Migrationshintergrund, aufgehetzt von radikalen Fanatikern, auf die Straße trauen und all dies fordern – noch einmal: wenige Stunden nach dem grausamen Massaker der Hamas; und bis heute.
Es gibt eine Parallele in der Geisteshaltung radikaler Islamisten, die die Vernichtung Israels und der Juden wollen, und den rechtsextremen Verächtern unserer Erinnerungskultur an die Schoa. Die deutsche Verantwortung für Israel ist ein Kern dieser Erinnerung. Auch in linksextremen und immer mehr linken Kreisen ist die Verachtung dieser Lehren zu spüren – auch der des 9. November 1938. Die Dämonisierung der Juden damals ist heute der jeder historischen Fakten und Kontexte entbehrenden Idee von Israel als westlichem Kolonialstaat gewichen. Was für eine unheilige Allianz hat sich hier gebildet.
Der 9. November 1938 war die ultimative Demonstration des Judenhasses und der Gewissheit: Die gewaltige Mehrheit der Deutschen sieht dem mörderischen Treiben tatenlos zu oder wird selbst zum Täter. Die Gewalt richtete sich gegen die Symbole jüdischen Lebens, aber auch gegen das ganz Alltägliche, wie die unzähligen Privatsynagogen, die so sinnbildlich für die Emanzipation der Juden in Deutschland gestanden haben. Privatsynagogen wie diese hier.
Wenn heute das Existenzrecht Israels deutsche Staatsräson ist, dann heißt das auch, dass das unverrückbar verknüpft ist mit dem Erinnern und Gedenken an den 9. November 1938; an seinen Schrecken, an seine Grausamkeit und an all das, was daraus folgte: die Schoa. Wer das eine sagt, muss auch das andere sagen. Das ist der logische Schluss, den nicht mehr alle gehen wollen.
Antisemitismus ist in Deutschland bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen.
Es ist etwas aus den Fugen geraten in diesem Land. Es ist noch die Gelegenheit, dies zu reparieren, doch dafür muss man sich auch eingestehen, was in den letzten Jahren schiefgelaufen ist, was man nicht hat sehen können oder wollen. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass hinter vorgehaltener Hand Antisemitismus in Deutschland bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen ist; vor allem israelbezogener Antisemitismus, wie sich zeigt; in die Hörsäle, in die Theater, auch in die bürgerlichen Vorstadthäuser.
Wer nach dem 7. Oktober noch glaubt, BDS sei harmloses Geschwurbel, dem ist nicht zu helfen. Aber es gibt auch Zeichen der Zuversicht: Zwei Intendanten, die die Initiative GG 5.3 unterschrieben hatten, die letztendlich der BDS-Ideologie in Deutschland weiter Vorschub leistet, haben ihre Unterschrift wieder zurückgezogen. Es ist diese Ehrlichkeit, die jetzt so bitter nötig ist.
Ich bin mir bewusst, dass Politik selten ein Geschäft des Schwarz oder Weiß ist, aber in diesen Tagen darf es in der Frage der Verteidigung Israels keine Zweifel geben. Es ist nun keine Zeit für Zurück- oder Enthaltung, meine Damen und Herren.
BEDROHUNG Von uns Juden können Sie das ohnehin nicht erwarten. Wenn Israel angegriffen wird, dann steht die jüdische Gemeinschaft in Deutschland an seiner Seite. Unsere Herzen sind bei den Menschen in Israel, das ist einfach so. In diesen Tagen sind unsere Gedanken außerdem ganz besonders bei den noch mehr als 200 Geiseln der Hamas und ihren Angehörigen! Und wir fordern diese Solidarität auch ein.
Das gehört zum Selbstbewusstsein der Juden in Deutschland. Wir stehen fest zusammen, gerade in Zeiten der Bedrohung. Wir lassen uns nicht einschüchtern, auch das ist eine der Lehren historischer Pogromerfahrungen wie der des 9. November 1938. Jüdinnen und Juden in Deutschland sind stark und selbstbewusst. Ich habe in den vergangenen Wochen viele Gespräche geführt mit Mitgliedern der Gemeinden. Ja, ich war erschüttert über die große Angst, die mir geschildert wurde, aber gleichzeitig auch beeindruckt angesichts des Mutes und der Widerstandskraft.
Gerade das, was die jungen Gemeindemitglieder, die jüdische Studierendenunion und andere in den vergangenen Wochen sichtbar für den Zusammenhalt innerhalb der jüdischen Gemeinschaft geleistet haben, ringt mir großen Respekt ab. Es lässt mich auch in dieser schweren Zeit versöhnlich in die Zukunft blicken.
Meine Damen und Herren, Schutz ist gut und, gerade jetzt, wichtig. Aber wir wollen keine Schutzschilde. Wir wollen frei leben in Deutschland, in unserem Land; frei leben in dieser offenen Gesellschaft. Und wenn es dieser Tage so weit weg wie lange nicht mehr erscheint, ist die Formulierung des Wunsches vielleicht umso wichtiger: Wir wollen frei leben und dabei nicht auf Schutz angewiesen sein. Diesen Wunsch habe ich, und den werde ich mir nicht nehmen lassen.
Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.