Herr Hikel, am 7. Oktober 2023 hat die Terror-Vorfeldorganisation »Samidoun« zur Feier der Hamas-Massaker auf der Sonnenallee Süßigkeiten verteilt. Wie hat das Ihren Blick auf Neukölln verändert?
Er hat sich nicht sehr verändert. Mir war schon vorher klar, dass wir beim Thema Nahostkonflikt und israelbezogener Antisemitismus in Neukölln eine sehr schwierige Gemengelage haben, um es diplomatisch auszudrücken. Ich wusste, dass es hier Menschen gibt, die die Taten der Hamas als einen Befreiungskampf interpretieren und den Terroraspekt vollkommen ignorieren. Dass auf der Sonnenallee an diesem Tag Hamas-Propaganda verbreitet wurde, hat mich daher nicht gewundert.
Wie würden Sie heute die Situation in Ihrem Bezirk beschreiben?
Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass es wesentlich besser ist als vor einem Jahr. Die Diskussion um den Nahostkonflikt hat in der gesamten Republik eine zum Teil ziemlich unangenehme Schlagseite bekommen. Da wird der israelische Militäreinsatz als Genozid bezeichnet und der 7. Oktober völlig ausgeblendet. Diese Tendenz in der Debatte wirkt sich natürlich wenig konstruktiv auf die Situation in Neukölln aus.
Gab es in Neukölln seitdem Fortschritte im Kampf gegen Islamismus und Antisemitismus?
Es gab nicht nur Schlechtes seit dem 7. Oktober. Wir haben zum Beispiel wichtige Bündnispartner mit arabischem Hintergrund hinzugewonnen, die mit dieser Hamas-Propaganda überhaupt nichts anfangen können, etwa die deutsch-arabische Schule in Neukölln und arabische Elternvertretungen. Außerdem ist noch einmal sichtbarer geworden, dass wir ein gesamtgesellschaftliches Problem mit Antisemitismus haben. Es lässt sich heute klarer darüber sprechen und dazu Position beziehen. Ich glaube, das war ein Weckruf für die Gesellschaft. Das Schlechte ist, dass wir im Kampf gegen Antisemitismus in vielerlei Hinsicht noch nicht weitergekommen sind.
Auf Bundesebene wurden aber einige Maßnahmen ergriffen, etwa das Verbot von Samidoun. Reicht Ihnen das nicht?
Das Verbot war gut, und das Bewusstsein dafür ist da. Ich hatte aber gehofft, dass man im Kampf gegen Islamismus weiterkommt. Wir stellen zum Beispiel in Neukölln fest, dass hier neue Moscheevereine auftauchen, die Hass propagieren, gegen die man rechtlich aber kaum vorgehen kann.
Was erwarten Sie von der Bundesregierung?
Kurzfristiger Aktionismus mit Durchsuchungen bringt sicherlich Schlagzeilen und ist auch nicht falsch, reicht aber nicht. Es fehlt eine nachhaltige Strategie gegen den Islamismus. Damit wir uns gegen islamistische Strukturen zur Wehr setzen können, bräuchte es zum Beispiel auch eine Überprüfung der Ausrichtung unserer Demokratieprogramme. Ich erwarte von Trägern, die zu Antidiskriminierung arbeiten, ein klares Eintreten gegen jeden Antisemitismus. Da kann es für mich keine Grautöne geben.
Es gibt auch Kritik an Maßnahmen, die Politik und Polizei ergriffen haben. Wie bewerten Sie zum Beispiel die umstrittenen Demonstrationsverbote, die es in den Tagen nach dem 7. Oktober in Berlin gegeben hat?
Es war richtig, diese Demonstrationen gerade zu Beginn zu verbieten. Sie waren nicht darauf ausgelegt, Solidarität mit den Menschen in Gaza zu zeigen, sondern Hass gegen Israel zu säen. Außerdem wurde auch am Anfang nur der Teil der Demonstrationen verboten, bei denen die Polizei davon ausging, dass dort mit Hass und Hetze oder Ausschreitungen zu rechnen war. Andere Demonstrationen konnten stattfinden.
In manchen Berliner Schulen wurde in diesem Zusammenhang die Kufiya, das sogenannte Palästinensertuch, verboten. War das ebenfalls richtig?
Auch das fand ich damals richtig. Kurz nach dem 7. Oktober hörten wir aus den Schulen, dass es dort eine große Unsicherheit gibt, wie man mit den Konflikten in der Schülerschaft umgehen soll. Der Wunsch wurde damals formuliert, dass man die Verwendung bestimmter Symbole – ob es jetzt die Kufiya oder gewisse Flaggen sind – untersagen kann, wenn sie dazu genutzt werden, den Schulfrieden zu stören. Es ging nicht um ein allgemeines Verbot für alle Schulen, sondern darum, dass die Schulen hier in eigener Abwägung entscheiden dürfen.
Im Rückblick: War diese Maßnahme geeignet, den Schulfrieden zu sichern?
Es ist gar nicht bekannt, wie viele Schulen tatsächlich solche Verbote durchgesetzt haben. Das konnte schließlich jede Schule individuell entscheiden. Solche Skandale, wie wir sie an Neuköllner Schulen unmittelbar nach dem 7. Oktober hatten, gab es danach zumindest nicht mehr. Die Schulen haben sich sehr schnell Hilfe in Form von externer Beratung geholt, und mittlerweile hat sich die Situation dort beruhigt, auch dank vieler engagierter Lehrkräfte.
Der Kultursenator Joe Chialo steht derzeit in der Kritik, weil er dem Kulturzentrum »Oyoun« in Neukölln die Förderung entzogen hat. Das Oyoun ist auch Treffpunkt israelfeindlicher Gruppen. Würden Sie den CDU-Politiker verteidigen?
Das Oyoun wurde auch schon unter Chialos Vorgänger, dem Linken-Politiker Klaus Lederer, kritisch gesehen. Ich persönlich finde es auch richtig, die Förderung auslaufen zu lassen. Natürlich muss der Staat keine Organisationen und Einrichtungen fördern, die eine Plattform für Antisemiten geben. Das trifft auf das Oyoun zu: Dort haben Treffen von Organisationen stattgefunden, die israelbezogenen Antisemitismus propagieren.
Was halten Sie von dem vorerst wieder zurückgezogenen Versuch Chialos, mögliche staatliche Förderung von Antisemitismus im Kunst- und Kulturbereich mit einer Klausel zu verhindern?
Der Staat muss selbst darüber entscheiden, wer von ihm Förderung erhält. Niemand hat einfach ein Anrecht darauf. Man sollte bei allem Pluralismus sicherstellen, dass niemand staatliche Mittel erhält, der demokratische Grundsätze nicht respektiert oder Haltungen hat, die unsere demokratische Gesellschaft spalten. Das Vorgehen muss aber rechtssicher sein. Eine pauschale Antisemitismusklausel funktioniert offenbar nicht. Also müssen andere Wege gesucht werden. Ich finde es gut, dass sich Politik und Verwaltung jetzt daranmachen, diese zu finden.
Nicht nur Orte wie das Oyoun sind in Neukölln eng mit der israelfeindlichen Szene verstrickt, sondern auch die Fraktion der Linkspartei in Ihrer Bezirksverordnetenversammlung. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den Neuköllner Linken?
Die Linke in Neukölln – nicht im Landesverband – definiert den Nahostkonflikt einseitig als uneingeschränkten Kampf unterdrückter Palästinenser, die gegen eine vermeintliche große Kolonialmacht im Recht seien. Da fehlt oft jegliche Differenzierung, da fehlt ein Bekenntnis zum Staat Israel und zum uneingeschränkten Schutz von Jüdinnen und Juden, genauso wie die Distanzierung von Terrorunterstützern. Das ist keine Grundlage für eine Zusammenarbeit. Ich würde mir wünschen, dass wir hier in Neukölln nach Wegen suchen, wie Menschen zueinander finden, statt darüber zu streiten, wie der Nahostkonflikt zu bewerten sei. Im Mittelpunkt sollte das Zusammenleben im Bezirk stehen. Das ist leider nicht bei allen Fraktionen so erkennbar. Es gibt auf der einen Seite diejenigen, die den Kampf der Palästinenser als einen uneingeschränkten Kampf der Unterdrückten gegen die vermeintliche große Kolonialmacht darstellen und pauschale Begriffe wie Genozid sehr schnell bei der Hand haben. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die den Nahostkonflikt nutzen, um Hass und Rassismus gegen Menschen mit Migrationsgeschichte zu schüren.
Mit Letzterem dürften Sie die AfD gemeint haben, die auch in der Bezirksverordnetenversammlung vertreten ist.
Genau. Da heißt es oft: Das sind alles Antisemiten und Israelhasser. Das ist natürlich auch nicht richtig.
In Neukölln leben viele Menschen mit arabischen und palästinensischen Wurzeln. Was erzählen die Ihnen? Haben die israelfeindlichen Proteste dort eine breite Unterstützung?
Es gibt zumindest keine richtig aktive, breite Gegenwehr. Ich würde mir wünschen, dass es anders wäre. Es gibt nämlich Akteure, die die arabischstämmigen Bewohner im Bezirk aufstacheln und gegen den vermeintlich gemeinsamen Feind Israel vereinen wollen. Es fehlt leider an einer ausreichend starken Zivilgesellschaft, um dagegen Widerstand zu leisten und eine andere Perspektive sichtbar zu machen. Doch es gibt ein paar wenige, die das versuchen. Die fördern wir als Bezirk und binden sie ein. Aber es ist ein sehr weiter Weg.
Viele Israelis und Juden fühlen sich in Neukölln seit dem 7. Oktober unsicherer denn je. Fürchten Sie um die Zukunft jüdischen Lebens in Ihrem Bezirk?
Ja und nein. Zum einen ist es schon lange so, dass Jüdinnen und Juden in Neukölln Probleme haben, ihren Glauben offen zu zeigen. Ich verstehe gut, wenn hier jemand zum Beispiel keine Kippa tragen würde. Die Person müsste damit rechnen, im schlimmsten Fall angegriffen zu werden, und könnte nicht unbedingt auf die Unterstützung von Umstehenden bauen. Andererseits gibt es aber auch jüdische Akteure, die hier in Neukölln aktiv sind. Mit dem Verein Hillel planen wir zum Beispiel die dritte Chanukkafeier in unserem Rathaus, zu der auch Menschen anderer Religionen eingeladen sind. Wir versuchen in Neukölln, jüdisches Leben als Normalität sichtbarer zu machen.
Was gibt Ihnen außerdem noch Hoffnung auf ein besseres Zusammenleben von Muslimen und Juden in Neukölln?
Ich habe das Gefühl, dass sich nach dem 7. Oktober in Neukölln langsam ein kritisches Bewusstsein für Antisemitismus entwickelt. Die wenigsten arabischstämmigen Menschen im Bezirk wollen hören, dass sie alle Antisemiten seien – weil es ja auch nicht so ist. Das ist aber ein weit verbreitetes Bild von Neukölln. Die einen beschweren sich, dass sie so gezeichnet werden, aber immer mehr sagen, dass sie etwas dagegen unternehmen wollen. Sie wollen zeigen, dass das auf längst nicht alle zutrifft. Das finde ich gut und macht mir Hoffnung.
Mit dem SPD-Politiker sprach Joshua Schultheis.