Es ist mitten am Tag, als wir Dieter Gruen in einem Vorort von Chicago erreichen. Hier lebt der 97-Jährige allein in seiner Wohnung – derzeit auf Abstand zur Welt. Verbunden ist er mit seinen Kindern und Enkeln per Telefon und Internet. Hin und wieder klingelt ein medizinischer Anrufdienst. Die Lebensmittel werden gebracht, und auch Dieter Gruen blickt besorgt in die Großstädte der USA. Alles ist anders seit dem Virus. Auch für ihn. Es sind betrübte Zeiten.
Dieter Gruen lächelt ein wenig in die Kamera seines Laptops und versucht, sich das Land vorzustellen, mit dem er gerade telefoniert. Es ist seine alte Heimat. »Aha, auch Sie kommen aus Thüringen. Aus Erfurt?« Er habe von der AfD gehört und möchte wissen, ob die rechtsgerichtete Partei wirklich so stark ist und was die Bevölkerung denkt.
Dieter Gruen hat allen Grund, besorgt zu sein. Eigentlich wollte er in diesem Sommer eine große Reise unternehmen, eine Reise von Chicago nach Thüringen. Gemeinsam mit Kindern und Enkeln sollte es nach Meiningen gehen und von dort nach Walldorf in Südthüringen.
BUCHENWALD Als eine amerikanische Journalistin ihn 2015 interviewte, stutze sie, erzählt er. Walldorf, wo liegt das denn? »Nun, ganz in der Nähe von Weimar«, habe er damals gesagt. Weimar. Dass die Stadt nicht nur für Goethe und Schiller steht, sondern auch für Buchenwald, habe er erklärt. Was Dieter Gruen damals jedoch nicht im Interview erwähnte: Sein Vater gehörte zu jenen ersten Inhaftierten auf dem Ettersberg, die nach der Pogromnacht im November 1938 dort ankamen. Dabei hätte alles ganz anders kommen sollen, auch für die Familie Grünstein.
Im November 1922 wird er als Dieter Martin Grünstein in Walldorf geboren. Alle seine Vorfahren, so scherzt er, hätten irgendwas mit »Grün« im Namen. Sein Vater Josef leitet in Walldorf die Schule, ebenso die Jüdische Gemeinde, die zu Meiningen gehört. »Da gab es diese wunderschöne Synagoge, dieses große Gebäude aus Stein, 1883 errichtet«, erinnert sich der alte Mann. Als Familie wohnte man später direkt im Haus nebenan.
Die Eltern ließen alles zurück und fingen völlig neu an, sie besuchten die Abendschule, Dieter Gruen ging zur Universität und studierte Chemie.
Die Synagoge gibt es heute nicht mehr. In jener Novembernacht 1938 wurde das Gebäude und auch das Leben der Juden in Walldorf und Meiningen zerstört. Damals war Dieter Gruen bereits in den USA. »Ich floh aus Deutschland im August 1937 und lebte mit einem Onkel und einer Tante in Little Rock, im Bundesstaat Arkansas.«
Highschool Er änderte seinen Namen, begann mit dem Eintritt in die Highschool ein neues Leben. Meiningen lag hinter ihm und damit auch die Erinnerung an seine letzten Schulwochen. Der Lehrer habe Uniform getragen, gegrüßt wurde mit dem Hitlergruß, und auch seine einstigen Klassenkameraden hätten zunehmend Freude daran gezeigt, ihn einfach zu verprügeln.
Die Eltern hatten beschlossen, dass es so für ihre beiden Söhne nicht weitergehen kann. Der ältere Bruder wurde schon 1936 nach London zum Studium geschickt. Dieter Gruen bekam ein Visum für die USA. Vermisst er heute trotz allem noch irgendetwas aus Meiningen, vielleicht das Theater? »Oh ja, da habe ich Faust gesehen und Peer Gynt, und von einem Musiker habe ich Geige spielen gelernt.« Er hält inne, sortiert die Gedanken und sagt: »Ja, und die Geige, die steht hier hinten. Die habe ich damals mitgenommen. Aber nie wieder gespielt.«
FAMILIE Die Reise nach Meiningen für diesen Sommer wurde nun wegen Corona abgesagt und wird hoffentlich nachgeholt, sagt er lächelnd. Denn er möchte unbedingt noch einmal dorthin. 1993 hatte er mit seiner Frau Walldorf und Meiningen besucht. »Alles war anders, die Synagoge war nicht mehr da, und nichts erinnerte an früher.«
Er schrieb einen Brief an den damaligen Bürgermeister, stellte sich vor und bat darum, ein kleines Signet anzubringen, wo einst die Synagoge stand. »Die Antwort war zwar kurz, aber immerhin«, sagt er. Die Botschaft war: Man werde sich kümmern. Und tatsächlich, als Jahre später sein Enkel mit Frau nach Meiningen reiste, um die familiären Wurzeln zu suchen, entdeckte er eine Erinnerungstafel, die Bezug nimmt auf die Jüdische Gemeinde und die Zerstörung der Synagoge 1938.
Die gesamte Familie konnte später fliehen. Dieter Gruens Eltern ließen alles zurück und fingen völlig neu an. Die Eltern besuchten die Abendschule, er ging zur Universität und studierte Chemie. Nur wenige Jahre später sollte das sein Leben komplett ändern. Mit 22 Jahren wurde er Teil eines der bedeutendsten wissenschaftlichen Projekte, des »Manhattan-Projekts«. Es ging um nichts Geringeres als die Erfindung und den Test der Atombombe. Und das möglichst vor den Deutschen. »Mein Professor empfahl mich, und so wurde ich ausgewählt – 1944 fuhr ich mit einem Bus nach Oak Ridge«, erzählt Gruen.
MANHATTAN-PROJEKT An die Schlafsäle dort und das trockene Klima erinnert sich der Nuklearphysiker heute noch. Im Gespräch für das Archiv der Atomic Heritage Foundation berichtet er von der Forschung unter größter Sicherheit und Geheimhaltung. Man habe gewusst, dass in Berlin seit den 30er-Jahren unter Werner Heisenberg am Kaiser-Wilhelm-Institut ähnliche Forschungen vorankamen. 1938 entdeckten Otto Hahn und Fritz Straßmann die Kernspaltung. Hahn erhielt 1944 dafür den Chemie-Nobelpreis, wurde später einer der größten Kritiker dieser Technik und wandte sich gegen nukleare Aufrüstung.
In den USA war man getrieben von der Idee, die Atombombe zuerst zu entwickeln und das auch weltweit zu demonstrieren. Robert Oppenheimer, der ebenfalls deutsch-jüdische Wurzeln hatte, wurde damit beauftragt, diese Technik für die USA zu entwickeln. Es war mitten im Zweiten Weltkrieg, und nicht nur die Eltern von Dieter Gruen hatten am eigenen Leib erfahren, zu welcher radikalen Vernichtung ein Land unter Hitler imstande war.
»Ich widme meine Kraft nur noch nachhaltigen, umweltfreundlichen Energiequellen.«Dieter Gruen
Allein in der Wüste von Mexiko, in Los Alamos, arbeiteten 3000 Menschen in einem Labor. Insgesamt sollen es circa 150.000 gewesen sein, die im Dienste dieses größten technischen Top-Secret-Projekts standen. »Oppenheimer bin ich nie persönlich begegnet«, sagt Dieter Gruen heute mit Jahrzehnten des Abstandes. Aber eine Geschichte fällt ihm ein. Eines Tages sei Oppenheimer in das Büro von Präsident Truman gekommen und habe gesagt: »Mr. President, ich habe Blut an meinen Händen.« Und es sei das letzte Mal gewesen, dass Truman mit ihm sprach.
Nagasaki Dieter Gruen wird ernst und nachdenklich, auch 75 Jahre später noch. Am 6. August 1945 wurde die erste Atombombe auf Hiroshima abgeworfen, am 9. August eine zweite auf Nagasaki.
126.000 Menschen haben ihr Leben unmittelbar verloren, 90.000 Tote werden später durch die Folgen sterben. Er weiß, jeder, der ihn heute fragt, will wissen: »Warum habt ihr, ausgerechnet ihr, das zugelassen?« Er sei überzeugt, sagt er, dass diese Bomben weitere Tragödien auf dem Planeten, noch mehr Kriege, noch mehr Tote verhindert haben. Es sei ein klares Signal der USA gewesen, und doch: »Es hätte nicht sein müssen.«
Hiroshima war der erste Test für die Atombombe. »Es war eine Uranbombe, die zuvor nirgendwo getestet worden war.« 60 Kilogramm Uran kamen Tage zuvor aus Oak Ridge nach Los Alamos. In Nagasaki fiel dann eine Plutoniumbombe. »Die Konsequenzen unserer Arbeit habe ich erst nach dem Bombenabwurf verstanden.«
BILANZ Man agierte zuvor mit Code-Namen. Keiner der Wissenschaftler, die Uran lieferten, war eingeweiht. Man hatte Vermutungen und tauschte sich untereinander aus. »Über Zerstörung haben wir nicht nachgedacht.« Das Resultat muss für viele der daran beteiligten Wissenschaftler ein Schock gewesen sein, auch für Dieter Gruen. »Die Message war: Wir hatten keine Verteidigung gegen Atomwaffen.«
Das Ergebnis war eine Initiative, in der er bis heute aktiv ist, die »Oak Ridge Engineers and Scientists«. Es ging um die Frage: Wie gelingt es uns, in der Welt künftig friedlich mit Atomenergie umzugehen? Mehr als 100 Wissenschaftler haben damals unterzeichnet, erinnert sich Gruen. »Auch Einstein. Und er forderte: Wir brauchen eine Weltregierung.«
Das Thema Atomwaffen und Atomenergie ist noch immer eines der brisantesten auf dem Planeten, das weiß auch Dieter Gruen. »Wenn der Iran eine Bombe haben sollte und diese auf Israel abwirft, haben wir den Dritten Weltkrieg. Das wäre unser aller Ende. Davon bin ich überzeugt.«
Mit Elan arbeitet er auch mit seinen 97 Jahren täglich an einem Solarzellen-Projekt und hofft, dass er lange genug lebt, um es abzuschließen.
Die Konsequenzen aus den beiden Atombomben auf Japan haben auch Dieter Gruen nicht unberührt gelassen. Er kehrte zunächst an die Universität in Chicago zurück, promovierte und arbeitete weiterhin als Wissenschaftler. »Wenn ich heute meine Arbeit als Nuklearphysiker reflektiere, dann gibt es zwei Seiten: Atomkraft hat eine konstruktive Wirkung und eine zerstörerische. Für den Rest meines Lebens habe ich deshalb beschlossen: Ich widme meine Kraft nur noch den nachhaltigen, umweltfreundlichen Energiequellen.«
Es klingt wie ein völlig neuer Plan am Ende eines langen Forscherlebens. Und genau das ist es auch. Mit Elan arbeite er täglich an einem faszinierenden Projekt und hoffe, dass er lange genug lebe, um es abzuschließen. Sein Ziel ist es, Solarzellen herzustellen, die möglichst günstig sind, für jeden einsetzbar, und die ohne Silicium auskommen. »Ich bin mir sicher, in zwei bis drei Jahren könnte man, wenn man will, diese Technik auf der Basis von Graphen, einem photoaktiven Material, haben.«
SOLARENERGIE Mit seinen 97 Jahren sei er noch immer aktiv und kreativ, sagt er und lächelt, »auch wenn andere immer denken, das geht nur mit 25«. Ihm kämen jetzt alle Forschungen zugute, jene über Reaktoren, über chemische Prozesse, über Kernspaltung. Er ist überzeugt, dass die Suche nach der alternativen Energie für diesen Planeten die größte Herausforderung ist – und der größte Druck, fügt er hinzu. »Wir sind jetzt in einer Situation, den Planten zu verschmutzen und unbewohnbar zu machen. Aber wir haben keinen zweiten. Es gibt keinen Planeten B.«
Und so arbeitet auch er derzeit – im Homeoffice – tagtäglich ein Stück daran, die Sonnenenergie für alle sieben Milliarden Menschen nutzbar zu machen. »Ich glaube fest daran, es ist möglich, dass wir alle von der Sonne leben können.«
In diesem Jahr war Dieter Gruen für die »Presidential Medal of Freedom« nominiert und hätte sie um Haaresbreite auch bekommen. Es sind jene Medaillen, mit denen die Präsidenten bedeutende Persönlichkeiten des Landes auszeichnen.
Wissenschaft Barack Obama hat in seiner Amtszeit 123 verliehen, etwa an Steven Spielberg und Robert Redford. Donald Trump entschied sich 2020 für zwei Personen, die besonders durch ihre konservative politische Haltung in den Medien auffallen, als pensionierter General und Kommentator oder als Medienunternehmer. Die Wissenschaft scheint eher eine untergeordnete Rolle zu spielen. Das bleibt auch Dieter Gruen am Ende seines Lebens nicht verborgen.
»Wissenschaftler haben heute schwere Zeiten, auch weil wir zu wenig in Grundlagenforschung investieren. Ich befürchte, wir fallen deshalb wieder zurück. Ich hoffe, ich habe unrecht, wenn ich das sage. Aber ich nehme an, es stimmt.«