Vor 20 Jahren wurde die Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« (EVZ) gegründet. Ziel war zunächst eine finanzielle und »humanitäre Geste« gegenüber überlebenden Sklaven- und Zwangsarbeitern und anderen NS-Opfern. Außerdem unterstützt die Stiftung Erinnerungs- und Menschenrechtsprojekte, um »die historische Verantwortung Deutschlands auf Dauer« zu bekunden, wie es heißt. Die promovierte Historikerin Christine Glauning leitet das 2006 eröffnete Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin. Im Interview erklärt sie, warum die Erinnerung an die Zwangsarbeit wichtig ist.
Frau Glauning, im Zweiten Weltkrieg sind Schätzungen zufolge mehr als 26 Millionen Männer, Frauen und Kinder durch das NS-Regime als Zwangsarbeiter ausgebeutet worden. 8,4 Millionen von ihnen wurden aus den besetzten Gebieten Europas in das Deutsche Reich verschleppt. Ist das Kapitel Zwangsarbeit inzwischen zu Ihrer Zufriedenheit aufgearbeitet oder sehen Sie noch »blinde Flecken«?
Es gibt immer noch viele blinde Flecken. Die Geschichte des Zwangsarbeitseinsatzes bei wichtigen Unternehmen wie der Reichsbahn oder Siemens ist noch zu wenig erforscht. Auch über das Schicksal der rund 250.000 in die KZ überstellten und oft ermordeten zivilen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ist kaum etwas bekannt. Der Widerstand von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, das Verhalten der Deutschen gegenüber den Millionen von Zwangsverschleppten - es gibt viele Themen, die noch der tiefer gehenden Recherche bedürfen. Leider gibt es zu wenig systematische Forschung an den Universitäten. Wünschenswert wäre eine Professur, die sich kontinuierlich der Geschichte der NS-Zwangsarbeit als allgegenwärtigem Massenphänomen im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten widmet.
Warum ist es Ihres Erachtens wichtig, die nachfolgenden Generationen darüber aufzuklären; wo liegen die Ansatzpunkte, um das Thema auch heute aktuell zu halten?
Es gibt kaum ein Thema, das auch heute noch so anschlussfähig ist wie die Geschichte der NS-Zwangsarbeit. Nicht nur die gesamte deutsche Wirtschaft, auch die NS-Gesellschaft profitierte in hohem Maße von der Ausbeutung von Millionen von Menschen. Zwangsarbeit war allgegenwärtig und unübersehbar. Die Beschäftigung mit diesem Thema trägt auch dazu bei, das Funktionieren der NS-Diktatur besser zu verstehen. Die Fragen, die wir an die damaligen Akteurinnen und Akteure stellen - nach ihrem Umgang mit den »Fremden«, nach ihren Handlungsspielräumen - können wir genauso gut heute an uns alle stellen: Wie verhalten wir uns gegenüber Geflüchteten und Neu-Zugewanderten? Welche Mechanismen von Ausgrenzung, Rassismus, Antisemitismus sind auch heute noch wirksam und was tun wir dagegen? Fragen wir nach den Produktionsbedingungen der Dinge, die wir kaufen oder konsumieren? Auch heute noch gibt es Ausbeutung und Zwangsarbeit, vielfach von Kindern, die unter erbärmlichen und rechtlosen Bedingungen arbeiten müssen. Wir haben es in der Hand, wie wir damit umgehen.
Was erwarten Sie sich von der Stiftung EVZ? Wie sollte sich das neue Führungsduo positionieren, welche Schwerpunkte künftig setzen?
Ich würde mir wünschen, dass die Stiftung wieder sichtbarer wird in ihrem Kernthema: der Vermittlung der Geschichte der NS-Zwangsarbeit. Auch Forschungsfragen und die Erschließung wichtiger Quellenbestände, zum Beispiel in Osteuropa, sollten eine Rolle spielen. Zudem ist die Sicherung der noch verbleibenden Stimmen von Überlebenden eine wichtige Aufgabe. Manche Förderentscheidungen für große Projekte sind zu wenig transparent, die Antragsfristen in den Förderprogrammen zum Teil zu kurz. Für viele der oft ehrenamtlichen Antragsteller wäre zudem eine längere Laufzeit der Projekte sinnvoll und ergiebiger. Eine Vernetzung der verschiedenen Projekte untereinander in regelmäßigen Treffen würde ermöglichen, dass alle mehr voneinander profitieren. Nicht zuletzt wäre die EVZ ein wichtiger Player, um zum Beispiel - wie schon einmal 2007 - in einer großen Tagung mit vielen Teilnehmenden aus der Praxis die Herausforderungen einer erfolgreichen Bildungsarbeit zu diskutieren.
Das Gespräch mit der Historikerin führte der Lukas Philippi.