Herr Dayan, am 25. Januar eröffnet die Ausstellung »Sechzehn Objekte – Siebzig Jahre Yad Vashem« im Bundestag. Wie ist die Idee dazu entstanden?
Es war eine Gemeinschaftsarbeit des Freundeskreises Yad Vashem und von Yad Vashem. Wir dachten, wenn wir eine Ausstellung in Deutschland, im Bundestag, machen wollen, dann muss es schon etwas Besonderes sein. Etwas, das die Idee des Schoa-Gedenkens in Deutschland zusammenfasst. Dass wir 16 Originalobjekte aus unserer Sammlung ausgewählt haben – je ein Objekt steht für ein Bundesland in Deutschland –, das entstand nach einem gemeinsamen Ideenfindungsprozess. Ich denke, dass es eine gute Entscheidung ist, denn es zeigt, über welchen geografischen Raum sich die Schoa erstreckte – nicht nur in Deutschland, aber das Land hat eben eine besondere Bedeutung. Und diese Objekte werden nun von Israel aus wieder nach Deutschland gebracht, woher sie kamen. An die Schoa muss erinnert werden. Es gibt zwei Orte, an denen dem Erinnern eine besondere Bedeutung zukommt: Israel und Deutschland. Wir in Israel gedenken der Schoa, Deutschland gedenkt als Täter der Opfer. Aber wir sollten sichergehen, dass wir keine Opfer und Täter mehr in der Welt haben: Das verbindet uns.
Unter diesen 16 Objekten ist das Stethoskop des Mediziners Hermann Zondek aus Berlin oder eine Aktentasche von Josef Wolf aus Greifswald. Zu welchem Objekt möchten Sie etwas erzählen?
Das Objekt, das mich persönlich berührt hat, ist der Stofffetzen einer Flagge der jüdischen Jugendbewegung Makkabi Hatzair (aus Ahrensdorf in Brandenburg, Anm. d. Red.). Sie wurde in zwölf Stücke zerteilt, und die Jugendlichen versprachen sich, dass, wenn das alles – sie wussten damals noch nicht, wie sie die Geschehnisse nennen sollten – vorbei sein würde, sie sich in Israel wiedertreffen und die Fahne wieder zusammenführen würden. Nur drei der Jugendlichen, die die Fahne unter sich aufgeteilt hatten, haben die Schoa überlebt. Was wir im Bundestag ausstellen werden, ist die rekonstruierte Fahne. Das andere, vielleicht sehr bekannte Objekt, ist die Chanukkia aus Kiel. Sie wurde kürzlich bei einer Zeremonie im Schloss Bellevue gezeigt – am zweiten Abend von Chanukka.
Das Stethoskop, die Flagge, die Chanukkia, welche Bedeutung kommt diesen Artefakten in Zeiten zu, da die Zeitzeugen hochbetagt sind und viele von ihnen bereits gestorben sind?
Sie sind absolut relevant und wichtig. Wir sind uns bewusst, dass wir leider, unausweichlich und viel zu schnell, auf Zeiten ohne Zeitzeugen zusteuern. Ich vermute und befürchte, dass das die »Happy Hour« der Nihilisten und Verzerrer sein wird. Wenn es keine Schoa-Überlebenden mehr gibt, die sich den Leugnern entgegenstellen und sagen: »Ich war da«, dann wird die Aufgabe von Yad Vashem sehr schwierig werden, aber auch umso dringlicher. Um über diese Leugner zu siegen, muss man Autorität haben. Diese Autorität erhält man aber nicht von selbst. Sie wird durch Dokumentation erlangt. Deswegen sammeln und dokumentieren wir Wissen über die Schoa in Archiven überall auf der Welt. Wir haben das größte Archiv an Schoa-Dokumenten: über 220 Millionen Seiten. Ganz aktuell arbeiten wir im Archiv des Vatikans. Aus diesem Grund habe ich mich vor ein paar Monaten auch mit Papst Franziskus getroffen. Er hat uns Zugang zum Vatikanischen Archiv gewährt. Wir nehmen unermüdlich Aussagen von Schoa-Überlebenden auf und recherchieren zu Dokumenten, zu Artefakten, Fotografien. Nur mit einer sehr soliden Basis kann man das Leugnen besiegen. Wir schauen sehr genau hin.
Wie sieht das aus?
Ich möchte Ihnen eine Anekdote erzählen, um Ihnen zu verdeutlichen, worauf es ankommt. Vor einigen Monaten war ich in New York City. Ich wurde von einem italienisch-amerikanischen Bürger kontaktiert, der mich treffen wollte. Er sagte mir, dass sein Vater gestorben war, und dass er als Sohn nun auf dem Dachboden nach einigen Dingen gesucht hat. Sein Vater hatte als amerikanischer Soldat an der Befreiung der Konzentrationslager in Deutschland teilgenommen. Er hatte zwei Objekte gefunden, die er gern Yad Vashem geben wollte. Zum einen ein paar schwarz-weiß-Fotografien, sehr, sehr eindeutige Bilder über die Konzentrationslager. Zum anderen war da dieses Messer. Ich muss sagen, ein sehr schönes, glänzendes Messer, das, so beschrieb er mir, einem SS-Offizier gehört haben soll. Sein Vater hatte es offenbar von ihm genommen. Und meine Antwort war: Vielen Dank, aber ich nehme die Bilder. Ich brauche das Messer nicht. Wenn es keine besondere historische Bedeutung hat, dann interessieren uns Nazi-Memorabilia nicht. Die Bilder allerdings können uns historisches Wissen darüber vermitteln, wie, wo und wann etwas geschah. Und auch diese 16 Objekte, die wir nun mit nach Berlin bringen, geben uns eine Antwort auf genau diese Fragen. Sie vermitteln uns historisches Wissen, soziologische Perspektiven. Jede einzelne Sache, die mit der Schoa zu tun hat, ist für uns von Bedeutung. Yad Vashem ist der Ort für die Opfer – fast nie interessieren wir uns für die Täter oder die Befreier. In Washington betritt man das United States Holocaust Memorial Museum und sieht etwas über die Befreier, was okay ist, denn es ist eine amerikanische Einrichtung. In unserer Dauerausstellung werden Täter nur dargestellt, wenn sie das Schicksal der Opfer erklären.
Für diese Ausstellung kommen Sie zum ersten Mal überhaupt nach Deutschland. Wie geht es Ihnen damit?
Ich habe in sehr jungen Jahren – ich war noch ein Teenager – beschlossen, Deutschland nicht zu besuchen. Der Grund dafür war nicht Hass. Es ging um das Gedenken. Es gibt diese alte jüdische Tradition – nicht viele Juden machen das –, eine Fläche im Wohnzimmer unangestrichen zu lassen. Warum tun sie das? Weil sie das tagtäglich an die Zerstörung Jerusalems und des Tempels vor 2000 Jahren erinnert. Das war die Logik, die hinter meiner Entscheidung stand. Wenn ich auf die Weltkarte schaue und sehe, welche Länder ich bereits besucht habe, dann sehe ich diesen Fleck, der noch offen ist. Und das hilft mir, mich daran zu erinnern, dass den Juden dort etwas Fürchterliches zugestoßen ist. Es geht also nicht um Hass, nicht um Feindseligkeit. Es geht um das Gedenken. Und wiederum aus diesem Grund habe ich beschlossen, jetzt nach Deutschland zu fahren. Hätte ich diese Reise als Privatmensch, als Tourist oder aus geschäftlichen Gründen angetreten, dann hätte ich es nicht wegen des Gedenkens getan. Als Chairman von Yad Vashem hinzufahren, unter anderem Bundeskanzler Olaf Scholz, Präsident Frank-Walter Steinmeier, den Politiker Friedrich Merz zu treffen, das stärkt Gedenken. Ich habe mit dieser Entscheidung meinen Frieden gemacht. Ich glaube, ich tue das Richtige. Auf persönlicher Ebene, nun, damit werde ich mich privat auseinandersetzen. Es wird sicher nicht einfach sein.
Sie sind als Teenager nach Israel gekommen. Sie waren 15 Jahre alt, die Gedenkstätte gab es damals 17 Jahre. Wie haben sie als Jugendlicher Yad Vashem wahrgenommen?
Es war ganz anders, inhaltlich noch kleiner, weniger sichtbar. Es war also anders, aber wissen Sie, Israel war damals auch ganz anders. Yad Vashem unterlag in gewisser Hinsicht – wie Israel auch – einem Entwicklungsprozess. Als ich 1971 nach Israel kam, war es doch noch ein sehr engstirniges, unentwickeltes Land – nicht zu vergleichen mit dem Land, das wir heute haben. Viele Menschen sehen Yad Vashem als Museum, wir haben natürlich auch ein Museum darin, zwei sogar, aber wir haben auch die International School of Holocaust Education, das International Institute for Holocaust Research, die Bibliothek, das Archiv und die Hall of Names, in der viele internationale Politikerinnen und Politiker der Opfer der Schoa gedacht haben.
Heute wird in vielen Formen gedacht. Es gibt Schoa-Überlebende, die ihren eigenen TikTok-Account haben. Wie wird das Gedenken in ein paar Jahren aussehen?
Es sollte eben anders gestaltet sein, je nach Ort, Publikum, Alter, Kultur. Unsere Herausforderung ist, diese Methoden aufzugreifen, um das Erinnern für verschiedene Zielgruppen aufrechtzuerhalten. Ich bin aber optimistisch. Das Gedenken an die Schoa ist heute viel stärker als noch vor ein paar Dekaden. Der 27. Januar, die International Holocaust Remembrance Alliance, das alles entstand im 21. Jahrhundert.
Wenn es um das Erinnern um deutsch-israelische Beziehungen geht, wie blicken Sie auf das Deutschland, das sich 16 Jahre unter der ehemaligen Kanzlerin Angela Merkel entwickelt hat?
Ihre Beziehung zu Israel war bemerkenswert. Aber ich möchte etwas Persönlicheres sagen: Die Kanzlerin war die erste internationale Würdenträgerin, die ich als Vorsitzender von Yad Vashem begrüßen durfte. Es war ihr sechster Besuch als Kanzlerin in Yad Vashem. Wissen Sie, normalerweise dauern Besuche von Würdenträgern 90 Minuten, zwei Stunden. Manche möchten einen sehr kurzen Besuch; damit sind wir nicht so einverstanden. Es war also ihr sechster Besuch, also wäre es schon okay gewesen, wenn sie vielleicht nur einen Kranz abgelegt hätte. Aber nein, sie blieb fast drei Stunden. Sie hatte eine einzigartige Bitte, die, so haben mir langjährige Mitarbeiter Yad Vashems versichert, sie noch nie zuvor in dieser Form gehört hatten: Angela Merkel wollte zum Ende ihres Besuchs 15 Minuten allein im Museum gelassen werden. Ganz allein, keine Sicherheit, keine Begleitung. Ich wartete auf sie am Ausgang, auf der Terrasse, von der man einen Blick auf das heutige Jerusalem hat. Ich weiß nicht, was sie während dieser 15 Minuten getan hat – vielleicht gebetet, vielleicht reflektiert – wir haben ihre Privatsphäre natürlich respektiert, aber die Kanzlerin war zutiefst bewegt. Die Ernsthaftigkeit ihrer Gefühle war absolut klar.
Was haben Sie danach gemacht?
Wir standen und blickten auf das Panorama von Jerusalem.
Als man Sie gefragt hat, Vorsitzender von Yad Vashem zu werden – Sie waren ja vorher Diplomat –, war Ihnen da sofort klar, dass Sie es machen würden?
Ich bin ja nicht mehr ganz so jung, und die Jahre als Diplomat in New York waren wirklich unglaublich erfüllend und aufregend. Ich sagte in New York immer, dass ich Jerusalem, die Hauptstadt der Welt, in der Stadt repräsentiere, die meint, die Hauptstadt der Welt zu sein. Nach diesen Jahren also dachte ich vielleicht auch darüber nach, mich zurückzuziehen. Als ich von der Regierung gefragt wurde, den Vorsitz von Yad Vashem zu übernehmen: Das lehnt man nicht ab. Als ich im Juli 2022 US-Präsident Biden hier begrüßen durfte, habe ich ihn von seiner Limousine zur Hall of Remembrance begleitet. Das sind vielleicht 200 Meter. Und ich sagte ihm, Israel wurde nicht wegen des Holocaust, sondern trotz des Holocaust gegründet. Man kann aber Israel und die Israelis nicht verstehen, ohne die Auswirkung, die die Schoa auf uns hatte, zu verstehen. Wir kamen also an der Hall of Remembrance an, an der schon Präsident Isaac Herzog, Premierminister Yair Lapid und Verteidigungsminister Benny Gantz warteten, und ich sagte, Herr Präsident, erinnern Sie sich, was ich Ihnen gerade sagte: Hier sehen Sie die beiden aktuell mächtigsten Israelis: den Premierminister und den Verteidigungsminister, beide sind Kinder von Holocaust-Überlebenden. Ich kann mir also keine bedeutendere historische Aufgabe für einen Juden vorstellen.
Wird die neue israelische Regierung einen Einfluss auf Yad Vashem haben?
Nein, das denke ich nicht. Yad Vashem ist eine staatliche Organisation, keine Regierungsorganisation. Wir sind autonom. Die finanzielle Unterstützung durch die Regierung macht nur einen Teil aus. Das Budget ist fest im Haushaltsplan, und ich glaube nicht, dass es geändert wird. Ich kann aber versichern, dass ich ein strenger Wächter von Yad Vashems Unabhängigkeit, Integrität, akademischer Freiheit und der Werte, für die wir stehen, sein werde. Daran wird sich nichts ändern.
Mit dem Vorsitzenden der Jerusalemer Gedenkstätte sprach Katrin Richter.
Die Ausstellung »Sechzehn Objekte – Siebzig Jahre Yad Vashem« wird kuratiert von Ruth Ur und Michael Tal.
Sie ist vom 25. Januar bis 17. Februar zu sehen und kann nach vorheriger Anmeldung montags bis freitags von 9 bis 17 Uhr im Paul-Löbe-Haus besucht werden.