In diesen Tagen wird der russische Angriff auf die ganze Ukraine drei Jahre alt. Könnt ihr euch an den Morgen des 24. Februar 2022 erinnern?
Anastassia Pletoukhina: Ich bekomme jetzt noch einen Kloß im Hals, wenn ich daran denke. Ich habe stundenlang geweint und immer wieder gedacht: »Wie konnten sie nur?«
Irina Bondas: Wir wollten es ja bis zuletzt nicht wahrhaben. Auch meine ukrainischen Kontakte haben das nicht glauben wollen. Ich musste bis spät in die Nacht arbeiten und habe dann gar nicht mehr geschlafen. Was danach kam, fühlt sich an wie ein einziger Tag, der bis heute anhält.
Lars Umanski: Ich war auch sehr lange wach in der Nacht, als Putin den Befehl zum Einmarsch gegeben hat. Danach habe ich tagelang nur noch Nachrichten gelesen. Ich habe ohne Pause am Handy gehangen. Es war sehr surreal.
Alexander Estis: Bei mir war es ähnlich. Ich lag tagelang mit mehreren Bildschirmen im Bett und konnte nicht aufstehen.
Lars, du bist 1997 mit deiner Familie als Baby aus Charkiw nach Deutschland gekommen. Es war die erste Stadt, die im Februar intensiv bombardiert wurde. Was hat das in dir ausgelöst?
Lars: Ich war nach meiner Geburt bis zum Jahr 2020 kein einziges Mal in der Ukraine. Ich habe das Land dann als junger Erwachsener besucht. Und ein paar Monate bevor der Krieg angefangen hat, war ich das erste Mal in Charkiw. Es war eine ganz andere Stadt, als das Charkiw, aus dem meine Eltern damals ausgewandert sind. Ich habe den Fortschritt gespürt, den das Land seit den anarchistischen Neunzigern gemacht haben muss. Als der Krieg anfing, habe ich mich gefragt: Wird all das jetzt kaputtgehen? Die Leute, mit denen ich gerade noch Sekt getrunken habe, die Omis, die vor den Häusern sitzen und Sonnenblumenkerne essen, was passiert jetzt mit denen?
Auch du bist in der Ukraine geboren, Irina.
Irina: Ich bin jedoch auch vor allem in Deutschland sozialisiert. Ich bin mit sechs Jahren aus Kyiv nach Deutschland gekommen und habe später persönlich und beruflich engen Kontakt zu der Region gepflegt. Da ich nicht dort aufgewachsen bin, musste ich vieles neu lernen, über die Ukraine, über die Sowjetunion. Und es war in Ordnung, irgendwie dazwischen zu sein, ein Bindeglied unterschiedlicher Identitäten. Das wurde 2022 infrage gestellt. Mir wurde bewusst, dass dieser Angriff auch mir galt, als jemandem, der in der Ukraine geboren ist. Aber gleichzeitig habe ich keinerlei Kriegserfahrung. Ich fühle mich dem gegenüber hilflos.
Anastassia: Nach dem, was ihr gesagt habt, fällt es mir schwer, meine Perspektive darzulegen;diesen Raum einzunehmen. Ich bin in Moskau aufgewachsen, bis ich zwölf war. Ich hatte nach dem Angriff das Gefühl, ich muss mich als in Russland geborene Person rechtfertigen. Dabei lebt meine Familie zu einem großen Teil auch in der Ukraine, und wir sind schon in den neunziger Jahren aus Russland ausgewandert.
Alexander: Wir können uns als Juden immer nur in der Relation zu den jeweiligen Dominanzgesellschaften beschreiben, seien sie sowjetisch, russisch, ukrainisch oder deutsch. Das liegt immer quer. Das ist, was die jüdische Identität ausmacht, ob freiwillig oder unfreiwillig. Lars, du hast dieses widersprüchliche Verhältnis, ob zur Ukraine, ob zu Russland, sehr schön beschrieben. Das gab es, glaube ich, immer. Auch wenn manche in der Sowjetideologie aufgegangen sind, in der Partei Karriere gemacht haben. Im Zweifel war man am Ende dann doch immer der Jude.
Alexander, du bist ebenfalls in den neunziger Jahren in Moskau aufgewachsen und dort sogar in den ersten jüdischen Kindergarten gegangen.
Alexander: Der hieß aber natürlich nicht so, sondern »Kindertagesstätte mit ethnischer Erziehungskomponente«. Es gab aber trotzdem immer wieder antisemitische Vorfälle. Auch die beiden jüdischen Schulen in Moskau – auf eine ging ich später – mussten streng bewacht werden. Sobald man die jüdische Gemeinschaft verließ, bekam man zu spüren, wo man noch immer lebte. In Russland waren wir die Juden, und später in Deutschland die Russen, die nicht zugehörig waren. Egal, woher man als Kontingentflüchtling kam, alle waren für die Deutschen einfach »die Russen«. Diesen merkwürdigen Kon-trast habe ich sehr stark gefühlt.
Wie haben eure Eltern, die alle noch in der Sowjetunion aufgewachsen sind, den Angriff wahrgenommen?
Lars: Ich habe ganz lange die Beziehung meines Vaters zur Ukraine nicht verstanden. Er hat immer gesagt, dass er nichts dort gelassen hat. Er hatte nicht viele gute Worte für das Land übrig. Er durfte nicht das studieren, was er gern studiert hätte, weil in seinen Dokumenten überall vermerkt war, dass er Jude ist. 2014 war der erste Moment, in dem ich einen Hauch von positiven Tönen gegenüber der Ukraine von ihm gehört habe. Und als der Krieg 2022 dann eskalierte, hat meine Mutter gesagt, ›Wenn wir jetzt dort wären, wäre dein Vater auch an die Front gegangen‹. Erst da habe ich verstanden: Als wir nach Deutschland gekommen sind, haben wir zwar alles mitgenommen, aber es gab auch einen Koffer voller traumatischer, sehr komplexer und schmerzhafter Beziehungen zu der eigenen Heimat, der nie ausgepackt wurde. Der wurde am 24. Februar 2022 geöffnet.
Mit welchen Folgen?
Lars: Meine Eltern verband etwas mit diesem Land. Sie positionierten sich nun klar auf Seiten der Ukra-ine. Ich hatte auch das Gefühl, dass dieser Krieg bei meinen Eltern so eine Art Verinnerlichung westlicher Werte, wenn wir das so bezeichnen wollen, bewirkt hat. Es gab Dinge, die sie als Menschen, die komplett in der Sowjetunion sozialisiert worden waren, nur schwer ablegen konnten. Jetzt ging es.
Irina: Ich hatte einerseits Glück, dass meine Eltern und ich die gleiche Sicht auf die Geschehnisse hatten. Andererseits ist es natürlich auch Pech, weil uns die Vorahnung schon sehr lange gequält hat, dass es so weit kommen könnte. Meine Mutter hat den russischen Chauvinismus schon immer wahrgenommen, auch schon in den 70er-Jahren. Dieser Krieg gegen Minderheiten und die Ukraine ist eben nicht drei oder elf Jahre alt, sondern hat über Jahrhunderte angedauert. Meine Familie hat zwar nicht die Erfahrung von ethnischen Ukrainerinnen und Ukrainern gemacht, die Unterdrückung der ukrainischen Sprache durchlebt, aber wir haben die Diskriminierung und Ghettoisierung der jüdischen Kultur ertragen müssen.
Alexander: Die Familie meines Vaters kommt ursprünglich aus der Ukraine. Er war in Kyiv, als die Stadt im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen bombardiert wurde. Da war er vier Jahre alt. Er ist mit seiner Mutter Polina den Bomben entkommen, Richtung Russland. Dann sind genau 80 Jahre vergangen, bis meine Nichte, also die Urenkelin meiner Großmutter, die auch Polina heißt, im Jahr 2022 wieder aus Kyiv vor Bomben geflohen ist, allerdings in die andere Richtung. Diese erschreckende Zyklizität der Geschichte beschäftigt mich sehr. Mein Vater sagte: Mein Leben ging los mit Krieg, und es endet jetzt damit.
Wie war es für deine Eltern, Anastassia?
Anastassia: Auch wir hatten glücklicherweise keinen Riss in der engeren Familien, so wie viele andere. Den russischen Angriff vom 24. Februar haben meine Eltern ganz klar verurteilt, was ich nicht für selbstverständlich halte, weil meine Familie sehr gemischt ist. Mein Papa ist nicht jüdisch, seine Vorfahren sind seit Generationen Russen, teilweise auch adelig, da ist er richtig stolz drauf. In der Familie meiner Mutter gibt es dagegen überzeugte Ukrainer, und wieder andere, die überzeugt das kommunistische System mitaufbauten. Es ist ein sehr komplexer Kontext, der in der Sowjetzeit einfach glattgestrichen wurde. Innerhalb meiner Familie gab es überhaupt keinen Raum, darüber zu sprechen, was in der Sowjetunion den Juden sowie auch reichen intellektuellen Russen und den Ukrainern angetan wurde. Ich habe mich immer gefragt, wie diese Menschen dann später miteinander leben konnten, Täter und Opfer zusammen. Auch heute gehen in meiner Familie die Meinungen weit auseinander. Ein absurdes Beispiel: Ich habe Verwandte in Odessa, die von Russland bombadiert werden, und die trotzdem darauf warten, dass ihr »Erlöser« Putin kommt und alles regelt. Ich bewundere meine Eltern dafür, dass sie das Gespräch mit ihnen aufrechterhalten, genauso wie zu ihren Freunden in Russland, die immer mehr abdriften.
Lars: Das ist genau das, was mich stört an dieser ganzen Debatte. Es geht hier nicht um Russen gegen Ukrainer. Auch ein Teil meiner in Deutschland lebenden ukrainischstämmigen Verwandten ist sich total sicher, dass in der Ukraine Faschisten an der Macht sind, obwohl sie früher jedes Jahr dort waren. Wir dürfen die Macht des russischen Propaganda-Apparats nicht unterschätzen. Auch die mangelnde Aufarbeitung der Geschichte der Sowjetunion, das Bildungssystem, in dem Reflektieren und Hinterfragen unmöglich war, das Aufwachsen in einer Diktatur. Das alles sind Komponenten, die viel wichtiger sind als die Frage, ob man in Moskau oder Kyiv geboren ist. Es geht doch darum: Kannst du dich von den Fesseln der Sowjetunion, dem russischen Imperialismus, dem Propagandaapparat befreien – oder nicht?
Nehmt ihr in dieser Frage auch eine Spaltung in den jüdischen Gemeinden wahr?
Lars: Das fing schon 2014 an, mit der Besetzung der Krim. Ich erinnere mich: Es gab einen Feiertag, zu dem ich in die Gemeinde ging, und die Leute, die für die
Ukraine waren, saßen auf der einen Seite, und diejenigen, für die die Annexion rechtens war, auf der anderen. So etwas hatte ich noch nie erlebt! Wir sprechen hier über Leute, die seit 20 Jahren zusammen in diese Gemeinde gegangen sind. Damals war der Kompromiss: Wir reden einfach nicht mehr über dieses Thema.
Anastassia: Ich glaube, gerade kleine orthodoxe Gemeinden, bei denen es beim Gebet wirklich auf jeden Mann ankommt, haben spätestens 2022 entschieden, dass das Thema einfach tabu ist. In den Familien aber ist 2014 schon einiges in die Brüche gegangen, weil die Streitereien so heftig waren. Der Konsum von russischem Staatsfernsehen bei den Senioren, unabhängig von der Herkunft, ist einfach sehr hoch gewesen.
Irina: Durch jahrzehntelange Propaganda hat man diese Menschen ideologisch auf die Annexion vorbereitet. Das war von langer Hand geplant.
Lars: Mit dem großen Angriffskrieg 2022 ist es in den Gemeinden dann explodiert. Man redete gar nicht mehr miteinander. Das war damals meine ganz große Angst, dass auch die jüdische Gemeinschaft auseinanderbricht. Aber ganz so dramatisch ist es nicht gekommen.
Irina: Mir gefällt der Fokus nicht, der in solchen Diskussionen oft gesetzt wird. Von wie vielen Menschen reden wir hier? Ein paar Tausend vielleicht. Wir sprechen gerade nur über Leute, die von dort kommen, während ein wesentlicher Teil der Bewunderer des russischen Imperialismus im Westen sitzt, auch in Deutschland. Auf einmal wird etwas, was Europa zugelassen hat, toleriert und zu Geld gemacht hat, zum privaten Problem unserer Familien und Gemeinden. Diese Probleme werden ausgelagert an die Migrantinnen und Migranten, von denen ein Großteil alles hinter sich gelassen hat, um in einer Demokratie mit Menschenrechten und in Freiheit zu leben. Genau das, was jetzt auch hier bedroht wird. Und trotzdem denkt eine Mehrheit in Deutschland immer noch, es betreffe sie nicht.
Alexander: Genau! Man kann auch nach Ostdeutschland gehen und dort fragen, wie die Leute so zu Putin stehen …
Lars: Viele Freunde, die schon als Kinder aus Russland nach Deutschland gekommen sind, waren 2022 auf einmal in einer Position, in der sie das Gefühl hatten, sie müssen sich rechtfertigen. Und ich war plötzlich das Opfer. Aber das ist falsch – wir sind alle hier aufgewachsen.
Irina: Ich habe einmal einen hochrangigen Politiker sagen hören: Es gäbe so viele Putin-Befürworter unter den Einwanderern aus der ehemaligen So-wjetunion, weil sie es einfach nicht geschafft haben, sich zu integrieren. So etwas bekommen wir von Menschen zu hören, die es seit Jahrzehnten nicht geschafft haben, sich zu Putin zu positionieren, obwohl für sie nichts auf dem Spiel stand. Das macht es für uns noch schwerer, unsere komplexen Familiengeschichten aufzuarbeiten.
Welche Bedeutung hat der 7. Oktober 2023 in diesem hochkomplexen emotionalen Gemenge?
Anastassia: Es war eine Krise nach der anderen, schon wieder wurde uns der Boden unter den Füßen weggezogen. Ich habe 2022 meine Heimat verloren – das heutige Russland ist nicht mehr mein Land. Das war ein echter Verlust: Ab 2007 hatte ich Moskau auf eigenen Reisen selbst entdeckt. Das war eine kurze Zeit, in der ich dort viel Potenzial gesehen habe. Ab 2012 wurde es dann aber wieder schlechter. Kurz vor der Pandemie hatte ich in Moskau das Gefühl, in meinem Rücken die Männer in grauen Anzügen zu spüren. Ich habe auch eine Ausstellung über die Geschichte Russlands besucht, in der mir ganz übel wurde. Da wusste ich schon, dass es vorbei ist. Nun sind meine Verwandten dort, aber auch die in der Ukraine, von mir abgeschnitten. Gleichzeitig haben mich die Hamas-Massaker vom 7. Oktober persönlicher getroffen. Ich war gemeint. Das war ein Pogrom. Als in den Wochen danach global zum Mord an Juden aufgerufen wurde, haben auch wir in Berlin uns überlegt: Wo würden wir uns verstecken?
Lars: Ein Großteil meiner Verwandten ist nach Israel ausgewandert, und am 7. Oktober war ich dort. Mein Cousin wurde als Soldat eingezogen, und es fühlte sich falsch an, nach Deutschland zurückzufliegen. Es war noch mal ein ganz anderes Zugehörigkeitsgefühl als das am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine.
Hat euer Umfeld in Deutschland auf diese beiden Angriffe unterschiedlich reagiert?
Lars: 2022 bin ich mit zwei ukrainischstämmigen jüdischen Freunden zu dieser riesigen Demo in Berlin gegangen. Wir haben noch Scherze darüber gemacht, wie verrückt es ist, auf einmal so in der Mehrheit zu sein. Diese Demo war viel größer, als eine israelsolidarische Demo je war.
Irina: Da fragt man sich schon: Wie weit musste es kommen für diese Unterstützung? Was muss jüdischen Menschen noch passieren, damit die, die nicht betroffen sind, hier in solchen Massen auf die Straße gehen? Nach dem 7. Oktober haben die meisten geschwiegen. Ich werde in meinem Engagement für die Ukraine auch kaum gleichzeitig als Jüdin wahrgenommen. Die Leute kriegen das nicht zusammen. Dabei gibt es Überschneidungen. Meine Oma hat das Massaker der Nazis in Babyn Jar überlebt. Ich werde immer wieder angegriffen, wenn ich diesen Aspekt mit dem Krieg in Verbindung bringe und frage: Was ist eigentlich mit der deutschen Verantwortung gegenüber der Ukraine angesichts der Nazi-Verbrechen an den dortigen Jüdinnen und Juden sowie der ukrainischen Bevölkerung?
Alexander: Ich hatte eine Veranstaltung im Literaturhaus in Heilbronn, da ging es um die Ukraine. Als ich auf die Judenvernichtung auf dem Territorium zu sprechen kam, stand jemand auf und protestierte laut: Das mit dem Holocaust ist doch das, was in Deutschland war. Das sagte er aus purem Unwissen.
Lars: Das ist ja auch genau das, was in Deutschland in den Schulen gelehrt wird. Babyn Jar suchst du in den Lehrbüchern vergeblich. Das war für mich ein krasser Moment, als ich 2021 das erste Mal in Kyiv war und mein Opa so nebenbei gesagt hat: Übrigens, die Familie meines Onkels ist dort umgekommen. Was bedeutet das gerade für mich als Juden mit ukrainischem Migrationshintergrund, der in Deutschland lebt? Ich war darauf nicht vorbereitet. Aber das ist vielleicht ein anderes Thema.
Irina: Es ist eben kein anderes Thema. Wie kann es sein, dass wir von Israels Sicherheit als deutscher Staatsräson und Verantwortung gegenüber Juden sprechen, aber unsere Verwandten, unsere Leben, und das, was uns ausmacht, innerhalb von zwei Jahren zwei Mal existenziell angegriffen wurden, und in Deutschland fühlt sich kaum jemand zuständig?
Alexander, welchen emotionalen Zusammenhang siehst du zwischen dem 24. Februar 2022 und dem 7. Oktober 2023?
Alexander: Ich sehe die Folgen dieser Ereignisse als sich teilweise überlagernde Risse. Das ging schon ein bisschen mit Covid los, da wurde es mit manchen Menschen schwierig. Dann mit dem 24. Februar 2022 gab es einen weiteren Teil, mit dem man überhaupt nicht mehr zusammenkam. Und dann kam der 7. Oktober. Plötzlich hat man sich mit Leuten nicht mehr auf einer Gesprächsebene wiedergefunden, von denen man immer dachte, dass sie sensibel sind für all das, was da auf uns zukam. Mein Bekanntenkreis ist sozusagen durch ein dreifaches Sieb gegangen.
Irina: Tatsächlich wird es immer schwieriger, Menschen zu finden, die angesichts der verschiedenen Kriege einen gesunden Menschenverstand bewahrt haben. Es gibt eine Reihe von Leuten, die sich nie mehr bei mir gemeldet oder mir vorgeworfen haben, dass ich in einer Spirale des Hasses gefangen sei. Ich fühle mich in meiner Identität von allen Seiten angegriffen.
Trump hat gerade angekündigt, er würde sich »sehr bald« mit Putin persönlich treffen wollen. Wohin steuert dieser Krieg?
Irina: In eine noch größere Katastrophe. Vor allem wegen der mangelnden europäischen Widerstandsfähigkeit vor dem Hintergrund, dass das amerikanische Regime jetzt die internationale Nachkriegsordnung aufgekündigt hat. Diese Gefahr wurde nicht ernst genommen – und sie wird uns alle betreffen.
Alexander: In Russland ist das schon lange in den Diskursen präsent. »Wir können es wiederholen«, lautet die Parole. Gemeint ist damit die sowjetische Besatzung Deutschlands. Dazu gibt es auch so Autoaufkleber und ganz obszöne Bildchen. Was hier als eine diffuse und unrealistische Bedrohung abgetan wird, ist dort, in Russland, im medialen Diskurs alltäglich. Da fehlt vielen hier die Einsicht. Und dann meinen Leute auch noch, die AfD wählen zu müssen, die Putin ideologisch den roten Teppich ausrollt.
Lars: Was Trump macht und wie sich die Politik der USA verändert, darauf hat auch Europa herzlich wenig Einfluss. Aber was wir machen können, ist, die Ukraine zu unterstützen. Wenn wir uns die letzten Finanzierungsdebatten ansehen, haben wir jedoch herzlich wenig gelernt in den vergangenen drei Jahren.
Anastassia: Wenn ich an die Zukunft denke, kann ich nur den Kopf schütteln. Ich kann nur einen Wunsch formulieren …
Irina: Frieden?
Anastassia: Ja. Ich habe mich fast nicht getraut, das überhaupt zu sagen. Weil ich glaube, dass der Frieden nicht unter guten Bedingungen zustande kommen wird. Erst mal hoffe ich einfach, dass in der Ukraine ein Waffenstillstand erreicht wird, der dann hoffentlich andauert.
Irina: Ich muss sagen, dass ich mir einen solchen Frieden nicht wünsche. Ich wünsche mir, dass Menschen in der Ukraine nicht mehr den Preis für einen Frieden und diesen Krieg zahlen müssen.
Alexander: Das große Dilemma ist, dass die eine Seite keinen Frieden will und dass das System Russland, so wie es ist, schlichtweg nicht darauf ausgelegt ist, irgendeine Art friedlicher Koexistenz zu führen. Nach drei Jahren Krieg erst recht nicht. Also man kann nur hoffen …
Anastassia: … dass auch Diktatoren sterben. Oder besser: Sie werden gestürzt!
Das Gespräch führte Mascha Malburg.
(Mitarbeit: Joshua Schultheis)