Für Historiker, Chronisten und Journalisten sind Zeitzeugen eine wichtige Quelle. Ihre Informationen werden gesammelt, aufgezeichnet, eingeordnet. Doch diese Arbeit ist auch für die befragten Menschen selbst wichtig. »Eine Frau hat mich gefragt: Warum kommen Sie erst jetzt?«, erzählt Andrej Umansky. Jahrzehntelang konnte sie mit niemandem über ihre Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs und der Schoa sprechen. Denn in ihrem abgelegenen Dorf in der Ukraine hatte sie nie jemand gefragt.
Umansky und zahlreiche Mitstreiter der Pariser Organisation »Yahad – In Unum« sind an diesen Orten in den während des Krieges von Deutschland besetzten Gebieten im Osten unterwegs. Ihr erstes Ziel ist es, noch unbekannte Massengräber jüdischer Opfer aufzufinden. Doch ihre Arbeit reicht wesentlich weiter.
Andrej Umansky ist im Vorstand von Yahad und historischer Berater der Organisation. In Köln promoviert er derzeit in Jura, in Paris in Geschichte. Als er 2004 anstelle des Wehrdienstes für die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in einer Gedenkstätte in Frankreich arbeitete, sprach ihn ein Kollege auf ein damals noch recht kleines Projekt an. »Er erzählte mir von einem Priester in Paris, der in die Ukraine fahren und mit Zeitzeugen zum Holocaust sprechen wollte. Er suchte dafür noch einen Übersetzer«, erzählt Umansky, der selbst in der Ukraine geboren wurde.
Seine Familie zog 1990 zunächst nach Frankreich, dann nach Deutschland. Das Projekt interessierte ihn sofort, auch wegen seines jüdischen Familienhintergrunds väterlicherseits. »Aber der Kollege hat mich gewarnt, dass es wie im Film ›Matrix‹ laufen würde, in dem der Protagonist sich zwischen zwei Pillen entscheiden muss: Entweder, er schläft weiter, oder er entdeckt die Wahrheit, die ihn nie wieder loslassen wird«, erzählt Umansky lachend. »Wir sind oft zusammen ins Kino gegangen, und ich dachte, er würde einfach zu viele Filme sehen. Aber er hat wirklich nicht übertrieben.«
Zeugen Im Sommer 2004 fuhr Umansky mit Priester Patrick Desbois von Lwiw, Lemberg, bis nach Kiew. Das Team war klein, die Orte verstreut auf der Route. »Wir haben schnell erfahren, dass es eigentlich immer Zeugen gegeben hat, wenn dort Menschen erschossen wurden«, sagt Umansky. »Die Ermordung der Juden fand nicht geheim statt, nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Irgendeine Etappe der Vernichtung der örtlichen Juden wurde von der lokalen Bevölkerung immer gesehen. Es war unglaublich, die Menschen zu treffen, die zum ersten Mal davon erzählen konnten. ›Wo waren Sie all die Jahre?‹, haben sie gefragt.«
Die Menschen wollten aber nicht nur selbst sprechen, das wenige erzählen, was sie noch in Erinnerung hatten. In den ländlichen Regionen waren sie lange von den Nachrichten und vom Informationsfluss abgeschnitten. Viele hatten nur ihren lokalen Blick auf den Zweiten Weltkrieg und wussten nicht, was alles geschehen war. »Die Menschen lebten und leben dort in einfachen Verhältnissen. Mit uns waren zum ersten Mal Leute da, die ihnen erklären konnten, was passiert ist. ›Warum haben die Deutschen das gemacht?‹, ›Was hatten sie gegen die Juden?‹, ›Warum wurden meine Nachbarn, meine Freunde getötet?‹.«
Auch wenn Umansky sich bemühte, die Fragen zu beantworten, hinterließen ihn doch einige sprachlos. In einem Dorf in Weißrussland traf er auf einen Mann, der von ihm wissen wollte, ob sein bester Freund aus Vorkriegstagen auch in einem der Massengräber liegen würde. Umansky hatte Archivmaterial und konnte ihm das bestätigen. 60 Jahre nach der Ermordung.
massengräber Mittlerweile ist Yahad in sieben Ländern tätig: In der Ukraine, in Weißrussland, Russland, Moldawien, Rumänien, Polen und Litauen interviewte Yahad insgesamt rund 4000 Menschen. Das erschreckende Ergebnis: »Man findet eigentlich überall etwas«, sagt Umansky. »Man muss gar nicht suchen.«
Wenn die Teams in einem Dorf ankommen, erhalten sie dort schon Informationen über ein mögliches Massengrab im nächsten Ort. »Mal geht es um größere Gräber, mal ist eine einzige Familie betroffen. Man hat in den vier Jahren, in denen diese Gebiete besetzt waren, die Juden systematisch getötet. Und man war sich nicht zu schade, in das entlegenste Dorf zu fahren, wo nur eine Familie lebte, und sie umzubringen«, betont Umansky. »Es waren keine Massaker hier und da, es war systematisch.«
Bevor ein Team zu seiner Reise aufbricht, sammelt es Archivmaterial und Sekundärliteratur und nimmt nach Möglichkeit Kontakt zu Forschern auf, die in den jeweiligen Regionen arbeiten. Die Daten werden aufbereitet, um Karten erstellen zu können. »Früher haben wir immer bei null angefangen und hatten kaum Kenntnisse, das ist heute anders. Doch auch jetzt ist der Holocaust in der Sowjetunion teils noch schlecht aufgearbeitet«, sagt Umansky.
Artefakte Die Geschichten der Zeitzeugen, die GPS-Daten, die von den Yahad-Mitarbeitern gespeichert werden, die mit Metalldetektoren gefundenen Gegenstände auf Feldern und in Wäldern können das ändern. Da auf deutschen Patronenhülsen das Produktionsjahr der Munition angegeben ist, können Forscher einen Bezug zwischen den Einheiten und den Tatorten herstellen.
»Die Idee ist auch, den Holocaustleugnern zu zeigen: Das ist tatsächlich geschehen, da wurden Juden getötet«, betont Umansky. »So haben wir eine Konvergenz: sowjetisches Material, Aussagen aus Prozessen in der Nachkriegszeit, Menschen vor Ort, die das gesehen haben, Artefakte. Alles weist darauf hin, dass jüdische Menschen erschossen wurden. Das lässt sich nicht leugnen.«
Wer die Verantwortung für die Erschießungen trägt, bleibt für Yahad zweitrangig. In manchen Orten seien die Morde von der lokalen Polizei begangen worden, auch fiel teilweise die jüdische Bevölkerung in manchen Dörfern Pogromen zum Opfer. »Wir stellen den Menschen nicht die Frage nach der Schuld«, sagt Umansky. »Auch nicht, warum sie dieses getan haben oder jenes nicht. Neben den Erschießungen interessiert uns zum Beispiel auch das Leben vor dem Zweiten Weltkrieg, die große Hungersnot in den 30er-Jahren.« Wenn dadurch ein Rahmen für die Erinnerung geschaffen wurde, wird in den Interviews der Schritt in die Zeit des Krieges gemacht.
Methodik Nach genauen Daten können die Yahad-Mitarbeiter ihre Gesprächspartner nicht fragen, aber Orientierungsreferenzen erkunden: Geschahen die Erschießungen vor oder nach der Ernte? Welche Tiere lebten auf den Höfen der Zeitzeugen? »Das sind Bezugsfragen, an die sich die Menschen leichter erinnern können. Es ist eine einfache Methodik«, sagt Umansky. »Das größte Lob ist, wenn die Person am Ende sagt: ›Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch so viel weiß.‹«
Diese Methode hat die Organisation auch an anderen Kriegsschauplätzen erfolgreich eingesetzt. Zwei Forschungsreisen führten Yahad-Teams nach Guatemala, auch in China sollen die Überlebenden der japanischen Aggression während des Zweiten Weltkrieges auf diese Art befragt werden.
Umansky glaubt, dass die Methodik des Holocausts von anderen Tätern an anderen Orten übernommen wurde. »Man sieht, dass auch sie voneinander ›gelernt‹ haben, wenn man nach Afrika oder Jugoslawien schaut. Der Holocaust war ein Türöffner für andere Genozide. So etwas wie Auschwitz gab es nie mehr, denn die Täter haben gemerkt: Das wird in Erinnerung bleiben«, vermutet der Kölner. »Bei einem Holocaust durch Kugeln, bei dem es hier 400 Tote gibt, dort 1000, schreit die Gesellschaft weniger auf. Erschießungen an Gruben werden schneller vergessen.«
Andrej Umansky selbst ist wegen seiner Promotionen nicht mehr so oft wie früher mit den Teams unterwegs, er arbeitet ihnen aber weiterhin zu oder stellt Kontakt zu Wissenschaftlern her, wenn die Mitarbeiter vor Ort in einer Sackgasse stecken. Trotzdem sei es so, dass er im Sommer 2004 eben diese Pille schluckte, von der der befreundete Cineast gesprochen hätte.
Das Thema wird ihn nicht mehr loslassen. »Ich lernte die Vergangenheit meines eigenen Herkunftslandes kennen. Ich war an Orten, an die sich sonst kein Mensch verirrt hätte. Dort leben alte Menschen ganz allein, keiner wird mehr zu ihnen kommen, ihre Erinnerungen retten. Wenn man das dann doch tun kann, hat man das Gefühl, zu etwas Größerem beizutragen.«