Mehr als 74 Jahre nach seiner Ankunft im deutschen KZ Auschwitz-Birkenau steht Bogdan Stanislaw Bartnikowski wieder in dem Gebäude, das die SS-Männer »Zentrale Sauna« oder »Entwesungs- und Desinfektionsanlage« nannten. Dort wurden Ankömmlinge, die nicht sofort ermordet werden sollten, entkleidet, geduscht, ihre Haare wurden geschoren. Jüdische Häftlinge mussten sich in der »Sauna« einer erneuten Selektion unterziehen. Wer von ihnen nicht für arbeitsfähig erklärt wurde, wurde in die Gaskammer geschickt.
Als Bogdan Bartnikowski nach Auschwitz kam, war er zwölf Jahre alt. Die Häftlingsnummer, die ihm auf den Arm tätowiert wurde, lautet 192731. Der nichtjüdische polnische Junge war nach der Niederschlagung des Aufstands der polnischen Heimatarmee 1944 gegen die deutschen Besatzer zusammen mit seiner Mutter nach Auschwitz gebracht worden.
Bartnikowski ist der erste Redner an diesem Freitag, der für die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau ein besonderer Tag ist: Nach ihm werden der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und Bundeskanzlerin Angela Merkel sprechen.
Der Zeitzeuge und Journalist Bogdan Bartnikowski erinnert sich genau an den 13. August 1944, seinen ersten Tag in Auschwitz.
scham Der Zeitzeuge und Journalist erinnert sich genau an den 13. August 1944, seinen ersten Tag in Auschwitz: »Plötzlich, als wir in die ›Sauna‹ kamen, mussten wir unsere Kleider ausziehen, in Gegenwart dieser vielen Frauen, und neben mir stand meine Mutter. Und ich wusste gar nicht, was ich mit meinen Augen tun soll, um nicht die Frauen um mich herum zu betrachten. Der Raum war gefüllt mit Schweißgeruch. Dann sah ich Häftlinge in einer Reihe, die die Frauen rasiert haben. Auch ich wurde rasiert.«
Der 87-Jährige weiß noch, wie er sich als Zwölfjähriger geschämt hat: »Ich habe meine Geschlechtsteile mit den Händen bedeckt, ich war schockiert. Das war eine Pseudowäsche, wir waren ja so viele Menschen damals an diesem Ort. Es gab keine Seife, es gab kein warmes Wasser, es gab nicht wirklich die Möglichkeit, sich abzutrocknen, sondern wir wurden weitergetrieben in den nächsten Raum, es war schon dunkel, die ganze Nacht haben wir dort nackt verbracht. Ich wollte in der Nähe meiner Mutter bleiben, und zugleich wollte ich, dass mich niemand berührt, nicht einmal meine Mutter.«
Kinderblock Bartnikowski überlebte im Kinderblock, im Januar 1945 wurde er zusammen mit seiner Mutter ins KZ Sachsenhausen gebracht und in ein Kommando in Berlin-Blankenburg eingewiesen, wo er bei der Enttrümmerung Berlins eingesetzt wurde. Nach dem Krieg hat er ein Buch mit dem Titel Eine Kindheit hinter Stacheldraht geschrieben. Er ist ein Zeitzeuge, der bis heute regelmäßig in KZ-Gedenkstätten auftritt.
»Im August 1944, als wir ankamen und fragten, wann würde man uns befreien, lachten uns die alten Häftlinge, die Kapos, aus und sagten: ›In die Freiheit kommt man nur über den Schornstein.‹ Und dann stellt sich heraus, dass es doch einen Weg gibt, und ich gehe ihn zusammen mit meiner Mutter«, sagt der Zeitzeuge.
Der polnische Ministerpräsident bescheinigt ihm: »Wir haben heute ein sehr berührendes Zeugnis gehört. Umso mehr sind wir zutiefst verpflichtet dazu, diese Erinnerung weiter zu bewahren und zu pflegen. Denn wenn die Erinnerung geht, dann ist es, als hätten wir zum zweiten Mal die Menschen verletzt, die hier diese Hölle und dieses unvorstellbare Leiden durchgemacht haben«, sagt Morawiecki. Auch deshalb sei es wichtig, die Gedenkstätten zu bewahren. Er erwähnt unter anderen das deutsche Vernichtungslager Treblinka, in dem etwa 900.000 Menschen, vor allem Juden, ermordet wurden.
Fotos Dann hat Angela Merkel das Wort. Sie spricht vor der Fotowand der Ausstellung in der »Zentralsauna«, mit Bildern von Ermordeten, die aus ihrem Gepäck stammen. »Heute hier zu stehen und als deutsche Bundeskanzlerin zu Ihnen zu sprechen, das fällt mir alles andere als leicht«, beginnt sie.
»Merkels Besuch war in der aktuellen politischen Situation wichtiger denn je«, sagte Zentralratspräsident Josef Schuster.
Auch Merkel würdigt die Rolle der Zeitzeugen. Später wird sie mit Bronislawa Horowitz-Karakulska zusammentreffen, einer Jüdin, die auf Oskar Schindlers Liste stand und als Zwölfjährige zweimal der Vergasung in Auschwitz entkommen konnte, und mit Barbara Wojnarowska-Gautier, die als Dreijährige vom berüchtigten Lagerarzt Josef Mengele für Versuche missbraucht wurde.
dank »Sie haben in den vergangenen Jahren wieder und wieder und auch für uns heute aus Ihrer Leidenszeit berichtet. Wer kann sich vorstellen, wie viel Kraft es kostet, sich diese schmerzhaften Erfahrungen immer wieder vor Augen zu führen oder gar wieder an diesen Ort zurückzukehren?«, bedankt sich Merkel.
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, ist Teil von Merkels Besucherdelegation – mit Romani Rose, dem Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, dem Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, und Christoph Heubner vom Internationalen Auschwitz-Komitee.
Schuster sagt: »Ich fand die Rede hervorragend.« Die Kanzlerin habe »der polnischen Seele geschmeichelt, indem sie, und das ist ja Fakt, sehr klar gesagt hat, dass Auschwitz ein Lager ist, das von Deutschen gebaut und betrieben wurde, also dass es kein polnisches Lager ist«. Merkel habe aber auch »sehr deutlich die Verantwortung Deutschlands für das Geschehene in Bezug auf die heutige Zeit herausgestrichen und den Bogen zur aktuellen politischen Situation sehr gut gespannt. Alles, was sie da gesagt hat, entsprach ihrer innersten Überzeugung«.
stimme Der sonst so beherrschten Kanzlerin merkt man ihre Beteiligung an, als sie über die Gefühle der Überlebenden spricht. Angela Merkel sagt: »Viele fragten sich, warum gerade sie überlebt hatten. Warum nicht die kleine Schwester? Warum nicht der beste Freund?« Dabei wird sie von ihren eigenen Gefühlen überwältigt. Ihre Stimme ist dünn und brüchig, als sie fortfährt: »Warum nicht die eigene Mutter oder der Ehemann?«
Der sonst so beherrschten Kanzlerin merkt man ihre Beteiligung an, als sie über die Gefühle der Überlebenden spricht.
Es ist der Moment, in dem die Debatte über die Frage, wieso Merkel erst jetzt Auschwitz besucht, irrelevant wird. Sie hatte einen Anlass für die Reise: Sie wurde zum zehnten Gründungsjubiläum der Stiftung Auschwitz-Birkenau eingeladen. Sie ist gekommen. Vorab sorgte sie – im 15. Jahr ihrer Amtszeit – dafür, dass Deutschland mit bis zu 60 Millionen Euro den Erhalt der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau unterstützt. Und wie lange sie noch Regierungschefin sein wird, darüber möchte man in im Zusammenhang mit Erinnerungspolitik nicht nachdenken.
Taten Josef Schuster findet: »Die Kanzlerin hat ihre Einstellung zum Judentum, aber auch zu jüdischem Leben in Deutschland und zu Israel während ihrer gesamten Amtszeit sehr klar und deutlich artikuliert. In Worten, auch in Taten – Stichwort Beschneidungsdebatte. Sie hat mehrere deutsche KZ-Gedenkstätten in ihrer Amtszeit besucht. Dass sie vorher nicht in Auschwitz war, ist für mich kein Grund zur Kritik.«
Jedoch sei Merkels Besuch »in der aktuellen politischen Situation wichtiger denn je« gewesen: »Unter diesem Aspekt war es ein besonders wichtiger Zeitpunkt.«
Am 27. Januar 2015 war Schuster bei der Gedenkfeier des World Jewish Congress in Auschwitz mit dabei. Doch diesmal, sagt er, sei es »auch für ihn das erste Mal, dass ich die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau besucht und bewusst gesehen habe«. Seine Großeltern Fritz und Hedwig Grünpeter, die Eltern seiner Mutter, wurden in Auschwitz ermordet.
Gemeinsam mit der Kanzlerin hat sich der Zentralratspräsident der Geschichte gestellt und auch Block 5 im »Stammlager« von innen gesehen, wo Brillen, Haar und Schuhe ermordeter Menschen ausgestellt sind. Darüber sagt Schuster nur einen einzigen Satz: »Ich denke, das geht jedem unter die Haut.«