Zwar wurden die Nazi-Beschuldigungen, die der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan gegen die Europäische Union, die Niederlande, die Bundesrepublik und konkret gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel erhoben hat, deutlich und überzeugend zurückgewiesen. Doch zugleich hat Erdogan mitgeteilt, er wolle weitermachen; selbstverständlich habe er weiterhin die Freiheit, »euch Faschist oder Nazi zu nennen«.
Die Türkei ist NATO-Partner und für die europäische Flüchtlingspolitik von zentraler Bedeutung. Da besteht tatsächlich die Gefahr, dass nach der Zurückweisung der Erdoganschen Nazi-Vergleiche zur Tagesordnung übergegangen wird. Doch die Folgeschäden wären enorm.
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die Nazi-Beschuldigungen, die von türkischen Politikern erhoben werden, nicht nur falsch sind, sondern dass sie auch die Schreckensherrschaft der Nazis relativieren – und damit die Leiden der Opfer der Schoa verharmlosen.
beleidigungen Erdogans immer unflätigere Beleidigungen – jüngst behauptete er gar, in Europa denke man wieder an »Gaskammern und Sammellager« – geschehen auf der Grundlage der Selbstwahrnehmung der Türkei als tolerante und gastfreundliche Nation, die gerade während der Schoa eine judenfreundliche Politik betrieben hat.
Wenn der Präsident eines solchen Landes, so dürfte Erdogans Kalkül lauten, solch schwere Vorwürfe erhebt, dann wird schon etwas dran sein. Aus gleicher Motivation heraus hat Erdogan mehrfach erklärt, die Lage in Europa erinnere an die Situation vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Botschaft an die türkische Bevölkerung lautet: Wir Türken müssen zusammenstehen, und ich, Erdogan, bin der weitsichtige Führer, der euch vor dem drohenden Faschismus bewahrt.
Die Philosophin Seyla Benhabib, in Istanbul geborene Jüdin, die heute an der Yale University in den USA lehrt, spricht von einer »Dialektik von Großzügigkeit und Grausamkeit«, die die Geschichte der Türkei kennzeichnet und die sich auch in Erdogans Polemiken und Beleidigungen offenbart.
schoa Es gab in der Tat nicht nur Beleidigungen, tatsächlich gab es eine türkische Hilfsgeschichte während der Schoa. Zwischen 1933 und 1945 nahm die Türkei 300 bis 600 entlassene deutsche Wissenschaftler, Künstler und Politiker, darunter vor allem Juden, auf. Einer von ihnen war Philipp Schwartz. Der Arzt floh aus Deutschland und gründete die »Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland«. Bereits 1933 emigrierte er in die Türkei und war auf Bitte von Mustafa Kemal Atatürk, dem Begründer der modernen laizistischen Türkei, maßgeblich am Aufbau der Universität Istanbul beteiligt. An Schwartz, der 1977 starb, erinnert seit 2014 eine Stele vor dem Frankfurter Universitätsklinikum.
In der Türkei wird an diese Emigranten häufiger erinnert als in Deutschland. Bei der Gedenkfeier zur Einweihung der Stele für Schwartz verwies der Generalkonsul der Türkischen Republik, Ufuk Ekici, darauf, dass die Türkei bis 1945 Wissenschaftler, Architekten und Künstler, darunter der Komponist Paul Hindemith und der Politiker Ernst Reuter, später Regierender Bürgermeister von Berlin, aufgenommen hatte. Ekici hob ihren Anteil an der Gestaltung der neuen, modernen Türkei hervor.
Den hatten sie. Und für jeden Menschen, der vor den Nazimördern gerettet werden konnte, gebührt der Türkischen Republik Dank. Doch die Historikerin und Turkologin Corry Guttstadt hat in ihrem Standardwerk Die Türkei, die Juden und der Holocaust nachgewiesen, dass das nicht nur von Erdogan gepflegte Bild der toleranten Türkei, die ein Schutzort für Juden war, ein Mythos ist. »Im Gegensatz zum Engagement einzelner Diplomaten vor Ort war die Politik Ankaras in erster Linie darauf ausgerichtet, eine Einwanderung oder Remigration von Juden in die Türkei zu verhindern«, schreibt Guttstadt.
staatsbürgerschaft Und Benhabib fasst zusammen: »Immer wieder haben türkische Regierungen, gleichgültig ob islamistisch, kemalistisch oder globalisierungsorientiert, türkisch-jüdische Bürger wie Figuren eines Schachspiels behandelt.« Vielen im Ausland lebenden türkischen Juden wurde die Staatsbürgerschaft entzogen – und damit der Schutz, den ihnen ein Pass bot. Viele türkische Juden wurden Opfer der Schoa.
Auch sie würden herabgewürdigt, würde man Erdogan seine Drohungen und Beleidigungen durchgehen lassen. Es sind ja nicht nur die Nazi-Beschuldigungen, die seine Politik ausmachen: Die Repressions- und Verhaftungswelle, die Abschaffung der Pressefreiheit, der Versuch, sich mit einem Referendum quasidiktatorische Rechte zu sichern, die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung und die immer wieder scheiternden Versuche, sich zur Hegemonialmacht des Nahen und Mittleren Ostens aufzuschwingen, gehören dazu.
Die Alternative zu einer Normalität, die all dies akzeptiert, muss die Auseinandersetzung sein. Das ist zuallererst die Stärkung der Kräfte in der Türkei, die mit einem »Nein« beim Referendum Erdogans erhofften Machtzuwachs verhindern wollen. Und es ist auch die Verpflichtung, sowohl an die deutschen Emigranten wie Philipp Schwartz als auch an die verfolgte jüdische Bevölkerung der Türkei zu erinnern.