Cem Özdemir

»Es darf keine Angsträume geben«

Fordert, Straftaten härter zu verfolgen: Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir Foto: Uwe Steinert

Herr Özdemir, bei einer Demonstration am Jahrestag der Hamas-Massaker wurde »der Märtyrer des 7. Oktober im Gaza­streifen« gedacht. Zwei Tage zuvor riefen Demonstranten auf Arabisch dazu auf, Juden zu erschießen. Wie kann ein Jahr nach den schrecklichen Ereignissen so etwas noch passieren?
Ich bin zwar nicht Innenminister oder Justizminister – eventuelle Demonstrationsverbote prüfen bei uns schließlich die Gerichte, und das Versammlungsrecht ist ein hohes Gut. Aber unabhängig davon, was das Gesetz oder Gerichte sagen, ist es einfach unerträglich, dass Menschen gerade an diesem Tag Terror feiern und Israelhass demonstrieren. Damit machen sie deutlich, dass sie eine zutiefst menschenverachtende Gesinnung haben. Ich habe kein Problem damit, dass man sich für eine Zweistaatenlösung einsetzt oder die israelische Regierung kritisiert, das tue ich genauso wie viele Menschen in Israel selbst. Aber hier geht es offensichtlich darum, die Verbrechen des 7. Oktober zu negieren und die Opfer der Massaker zu verhöhnen

Am 7. Oktober ist jetzt auch Greta Thunberg bei den antisemitischen Demonstrationen in Berlin mitgelaufen. Wie erklären Sie sich, dass ausgerechnet so viele Klima-Aktivisten nun gegen Israel demonstrieren?
Niemand spricht ihr das Recht ab, für die Rechte der Palästinenser zu demonstrieren. Hier geht es aber um das Existenzrecht Israels und um Terrororganisationen wie die Hamas, denen es ganz sicher nicht um das Schicksal der palästinensischen Zivilisten geht. Ich sage auch in die eigenen Reihen in Sachen Greta Thunberg: Dass ich mir Sorgen um die Klimakrise mache, entbindet mich nicht von der Sorgfaltspflicht, mir genau anzuschauen, mit wem ich da marschiere.

Gibt es etwas, dass Sie Greta Thunberg gern sagen würden?
Ja, zum Beispiel: Wie wäre es mit einer Demonstration für eine Zweistaatenlösung, gegen gewalttätige Siedler im Westjordanland, die sich gleichzeitig ohne jede Zweideutigkeit gegen Hamas, Hisbollah und Islamischen Dschihad richtet? Dann, aber auch nur dann, würde ich ihr abnehmen, dass es ihr um die Menschenrechte geht. Solange dies nicht der Fall ist, stehen wir auf unterschiedlichen Seiten der Barrikade.

Apropos, Barrikaden: Nachdem Sie in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« eine konsequentere Migrationspolitik gefordert haben, unterstellten Kritiker wie der Berliner SPD-Politiker Orkan Özdemir Ihnen, Sie würden als »migrantisierter Politiker umfallen«. Ärgert Sie dieses Lagerdenken?
Das macht mir nichts aus. Dieses Lagerdenken gab es schon immer, wie ich es auch in dem Artikel beschrieben habe. Wegen des vermeintlichen Beifalls von der falschen Seite soll ich Frauenrechte, LGBTIQ-Rechte oder Kinderrechte verraten? Nicht mit mir. Ich bin verankert in den Prinzipien der Französischen Revolution und der Aufklärung, und die unterscheiden weder nach ethnischer Herkunft noch nach Geschlecht. Ich lasse mich in keine identitäre Schublade stecken und mir vorschreiben, was ich sagen darf. Mit dieser Identitätspolitik kann ich rein gar nichts anfangen.

Was denken Sie über die Kritik?
Dieser Herr, der sich da empört hat, sollte einmal seinen Anteil daran überprüfen, warum die AfD und Frau Wagenknecht heute da stehen, wo sie stehen. Wir hätten in Deutschland einige Probleme weniger, wenn wir aufhören würden, mit der ethnischen Brille Politik zu machen. Aber um es positiv zu sagen: Ich bin überwältigt von den unterstützenden Reaktionen, die ich bekommen habe, auch von ganz normalen Menschen mit Migrationshintergrund, die mich auf der Straße anhalten und mir sagen: »Wir haben die Schnauze gestrichen voll, dass wir, die sich an Recht und Gesetz halten, jeden Morgen unseren Rücken krumm machen, mit denen gleichgesetzt werden, die sich daneben benehmen.«

Ali Erbas, Chef der türkischen Religionsaufsichtsbehörde Diyanet, hat wenige Tage nach dem Massaker der Hamas gesagt, dass Israel wie ein Dolch im Herzen der islamischen Geografie sei. Ihm unterstehen mehr als 1000 Ditib-Moscheen in Deutschland. Hat eine Islamkonferenz mit solchen Organisationen noch ihre Berechtigung?
Das Zitat geht sogar noch weiter: »Heute findet in Gaza vor den Augen der ganzen Welt die größte Tyrannei der Geschichte statt. Angesichts all dieser Tyrannei und Unterdrückung bleibt den Muslimen keine andere Wahl, als im Kampf für die Freiheit Widerstand zu leisten.« Das ist eine Relativierung der Schoa und eine Rechtfertigung von Terror als sogenanntem Widerstand. Es vereinnahmt auch sämtliche Muslime auf diesem Planeten für ein hochgradig verstörendes Weltbild.

Umso mehr stellt sich die Frage nach dem Sinn solcher Gespräche.
Ich habe kein Problem mit Gesprächen. Ich habe nur ein Problem damit, wenn man geistig unbewaffnet ins Gespräch geht. Da ich meine Pappenheimer gut kenne, weiß ich, dass manche ein hohes Maß an Naivität an den Tag legen. So wie wir jahrelang naiv waren im Umgang mit den Putins, Erdogans und Orbans dieser Welt, so sind wir leider auch naiv im Umgang mit deren Vertretern in Deutschland. Wenn die einem sagen – ich zitiere jetzt einmal aus Gesprächen, an denen ich selbst beteiligt war: »Na ja, das wird ja in der Türkei gesagt, wir hier in Deutschland passen schon auf«, dann sind das Märchen. Wir wissen, was dort gepredigt wird, und wir wissen, dass es einen direkten Zugriff von Diyanet auf Ditib gibt. Das Gleiche gilt für Milli Görüs. Ich warne vor jeder Art von Naivität und vor doppelten Standards. Beispielsweise haben Muslime das Recht auf einen muslimischen Religionsunterricht, aber der muss mit beiden Beinen auf dem Boden des deutschen Grundgesetzes stattfinden, und das nicht nur mit den Zehenspitzen. Wenn wir uns in der Bundesrepublik Deutschland im öffentlichen Raum begegnen, gilt kein heiliges Buch, sondern das Grundgesetz.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat im Sommer den türkischen Präsidenten Erdogan besucht und ihn in Ankara einen »werten Freund« genannt. Kurz darauf hat Erdogan den damaligen Hamas-Chef Ismail Haniyeh herzlich empfangen. Fällt das auch unter die von Ihnen beklagte deutsche Naivität?
Es steht mir nicht zu, den Bundespräsidenten und seine Wortwahl zu kritisieren. Meine Freunde sind Can Dündar, der aus der Türkei fliehen musste, weil er die illegalen Waffenlieferungen von Erdogan an die islamistischen Verbrecher in Syrien und im Irak aufgedeckt hat. Meine Freunde sitzen in der Türkei im Gefängnis, beispielsweise Osman Kavala, ein Förderer der Zivilgesellschaft, unter anderem auch der jüdischen Gemeinden in der Türkei. Aber auch Selahattin Demirtas, der es gewagt hat, gegen Erdogan bei der Präsidentschaftswahl anzutreten und zur Strafe im Gefängnis sitzt. Das sind meine Freunde: diejenigen, die sich für eine demokratische, europäische, offene Türkei einsetzen, in der jeder Bürger gleich an Rechten und Pflichten ist, unabhängig davon, ob er Kurdisch oder Türkisch spricht, oder wie mein verstorbener Vater Tscherkessisch.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat bei einer Gedenkveranstaltung zum 7. Oktober betont, dass seine Solidarität den Bürgern Israels gilt. Gleichzeitig hat die Bundesregierung seit Januar nur Kriegswaffen im Wert von 32.000 Euro nach Israel exportiert, obwohl dringende Anfragen vorliegen. Wie passt das zusammen?
Da fragen Sie den Falschen. Ich sitze nicht im Bundessicherheitsrat und kann das nicht beurteilen. Aber es ist klar, dass Israels Sicherheit deutsche Staatsräson ist. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen: Dass die Staatsräson auch Menschen umfasst, die in Deutschland leben und sich zum Judentum bekennen, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland sicher leben können, sollte eigentlich klar sein. Das ist es aber offenbar leider nicht. Ich habe mich über den Langmut vieler jüdischer Gemeinden immer sehr gewundert, die sich nach jedem Anschlag von Politikern unwidersprochen anhören müssen, dass Juden in Deutschland sicher sind, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Es gibt Schulen, wo das jüdische Kind die Klasse verlässt und nicht diejenigen, die das Kind drangsalieren, und es gibt Schulen, in denen die Lehrer Probleme damit haben, die Massaker vom 7. Oktober zu thematisieren, weil sie Angst vor der Reaktion der Eltern haben. Ich benenne das nicht, um jemanden zu stigmatisieren, sondern weil ich möchte, dass meine Kinder in einer offenen, liberalen Demokratie aufwachsen, und ich auch keine Lust habe, dass wir Leute an die AfD oder Frau Wagenknecht verlieren, weil die das Gefühl haben, dass wir demokratischen Parteien nicht in der Lage sind, Probleme ohne Schaum vor dem Mund zu adressieren und zu lösen.

Am Wochenende stellte sich heraus, dass vor allem die Grünen-Minister Robert Habeck und Annalena Baerbock Waffenlieferungen an Israel blockieren. Die israelische Regierung müsse erst schriftlich versichern, die Waffen nicht für einen Völkermord einzusetzen. Halten Sie die Forderung Ihrer Parteikollegen für angemessen?
Die Aufregung um die Presseberichte vom Wochenende konnte ich nicht nachvollziehen. Ich gehe grundsätzlich davon aus, dass deutsche Waffen völkerrechtskonform eingesetzt werden. Sich das unter Freunden auch noch einmal schriftlich zu versichern, sollte kein Problem sein. Und wenn es hilft, weil es einem ein Gegenargument etwa gegen den Vorwurf vor dem Internationalen Gerichtshof gibt, Deutschland würde sich an vermeintlichen Verbrechen beteiligen, umso besser. Der Kanzler hat letzte Woche im Bundestag gesagt, dass die Bundes­regierung Entscheidungen getroffen hat, die sicherstellen, dass es demnächst weitere Lieferungen geben wird. Ich gehe davon aus, dass das Thema damit erledigt sein wird.

Was muss die Bundesregierung in die Wege leiten, um das Leben für Juden und Jüdinnen in Deutschland nach dem 7. Oktober sicherer zu machen?
Ich glaube, in den Werkzeugkoffer gehören viele Dinge. Beispielsweise das Thema Prävention. Kein Kind kommt als Antisemit auf die Welt, sondern es sind die Erwachsenen, die die Gehirne dieser Kinder waschen und aus ihnen Antisemiten machen. Es braucht Präventionsräume, in denen man darüber sprechen und auch Juden kennenlernen kann. Gleichzeitig müssen Straftaten hart verfolgt werden. Ich will nie wieder sehen, dass Juden oder jüdische Einrichtungen attackiert werden, dass deutsche Polizisten angespuckt werden, ich will nie wieder hören, dass strafbewährte Parolen gerufen werden und dann nichts passiert. Natürlich müssen auch aufenthaltsrechtliche Konsequenzen geprüft werden. So wie ich und viele andere immer gesagt haben, dass es keine national befreiten Zonen geben darf, in die Muslime oder Menschen mit dunkler Hautfarbe keinen Fuß setzen können, so darf es auch keine Angstzonen für Menschen mit Kippa oder Davidsternanhänger geben. Wenn sie in Neukölln über die Straße laufen wollen, ist das ihr gutes Recht, und niemand darf dieses Recht einschränken. Wer auch immer das versucht, muss eine harte Antwort des Staates zu hören bekommen.

Mit dem Grünen-Bundestagsabgeordneten und Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft sprach Nils Kottmann.

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