Einst kämpfte er für den Aufbau eines nationalsozialistischen »Deutschen Reichs«, heute klärt der Nazi-Aussteiger Christian Weißgerber andere auf: Wie wird man eigentlich rechtsradikal? Und wie gelingt ein Ausstieg aus der Szene?
Weißgerber, 34 Jahre alt, bezeichnet Rechtsextremismus bei einem Vortrag in Erfurt als eine Art »Ersatzreligion«. Sie hat dem damals jugendlichen Thüringer Halt gegeben. Aufgewachsen in einer, wie er sagt, »gewaltvollen Familiensituation« in einer »wenig antirassistischen Umgebung«, fand er Sinn in einer rechtsextremen Weltanschauung.
Weißgerber erklärt, dass er über Freunde in die Neonazi-Szene hineingerutscht sei. Da habe es diesen 18-jährigen Freund einer Mitschülerin gegeben, Stefan. Stefan hatte ein Auto und fuhr die 15-Jährigen zu einschlägigen Konzerten.
Nietzsche
Stefan wurde Weißgerbers Mentor, sagt er. »Wir haben zusammen Nietzsche gelesen, aber natürlich straff faschistisch interpretiert«, erinnert sich der gebürtige Eisenacher, der heute als Bildungsreferent in der ganzen Bundesrepublik unterwegs ist und über seinen Ausstieg aus der Nazi-Szene ein Buch geschrieben hat.
Weißgerber erklärt, was sich auch heute, wo rechtspopulistische Parteien europaweit erstarken, zu wissen lohnt: Nicht alle überzeugten Rechtsradikalen seien dumm, sondern »auf ihre Weise auch gebildet«. Denn: »Radikalisierungsprozesse sind Bildungsprozesse«, sagt Weißgerber.
Er selbst habe etwa viel gelesen - »fragwürdige Literatur« - und viel hinterfragt. Dabei habe er sich selbst als kritischen Geist empfunden, nicht als jemanden, der den Holocaust relativiert. Es gebe so etwas wie das »kreative Vermögen, falsche Probleme zu erzeugen« und sich daran zu klammern. Das sei für ihn Dummheit.
Hakenkreuz-Fahne
Mit 18 Jahren gründete Weißgerber seine erste eigene nationalsozialistische Jugendorganisation. Wenn sein Vater, bei dem er mit seiner Schwester aufwuchs, mehrere Tage auf Montage war, habe er »entspannt« unter einer riesigen Hakenkreuz-Fahne geschlafen.
Nach dem Abitur geht er zur Bundeswehr - die gehörte für ihn zum Mannsein und zum Deutschsein dazu. Doch wegen seiner Gesinnung wird er dort wieder rausgeschmissen.
Weißgerber beginnt nun seine »politische Karriere« als Neonazi, berichtet er. Er organisiert Veranstaltungen, hält Reden vor hunderten Rechtsradikalen, macht selber Musik »mit einschlägigen Texten« und ist in den Sozialen Medien als Nazi-Influencer aktiv, unter anderem bei YouTube.
Ideologie
Seinen Körper lässt er mit verfassungswidrigen Symbolen tätowieren. Der Thüringer ist überzeugt, dass seine Ideologie die richtige ist und sich durchsetzen wird.
Rechtsextreme hätten gewisse Glaubenssätze, sagt der Aussteiger. Sie warteten nicht auf das Reich Gottes, sondern das Deutsche Reich und hätten ebenfalls »geheiligte Orte« - etwa das Kyffhäuser Denkmal in Thüringen. Der wichtigste Feiertag sei für Neonazis zudem nicht Weihnachten oder Ostern, sondern die Sommersonnenwende am 21. Juni.
Er habe damals an den Nationalsozialismus geglaubt und sei nicht bereit gewesen, grundlegende Dogmen umzuwerfen. Weißgerber wagt einen Vergleich: »So wenig, wie ich Gläubige davon überzeugen kann, nicht mehr an Gott zu glauben.«
Desillusionierung
Doch Weißgerber merkt ab einem gewissen Zeitpunkt, erklärt er, dass sein Plan nicht aufgeht. Es sei trotz seines Aktivismus keine erfolgreiche rechtsradikale Bewegung entstanden.
Zweifel, Enttäuschung und Desillusionierung stellen sich bei ihm ein - auch dadurch, dass er verstärkt Kontakt zu Linken gesucht hat, um sie für seine rechtsextreme Bewegung zu gewinnen. Dafür öffnet er sich für antikapitalistische Ideen, äfft, wie er sagt, linke Politiken nach. Doch überzeugen kann er nicht.
Die Gegenwehr von vor allem antifaschistischen und staatlichen Strukturen ermüden. »So eine Lichterkette interessiert Neonazis nicht auf die gleiche Weise wie eine Staatsanwaltschaft, die das Haus durchsucht«, sagt Weißgerber.
De-Radikalisierung
Mit Anfang 20 zieht sich der Thüringer aus der Szene zurück und konzentriert sich auf sein Studium der Philosophie, Soziologie und Kulturwissenschaft. Schließlich steigt er aus. Die De-Radikalisierung habe aber bei ihm gedauert, das sei ein sehr langer Prozess, führt der Bildungsreferent aus.
Er habe es sich beispielsweise richtiggehend abtrainieren müssen, auf bestimmte Personen zu reagieren. Hass und Ablehnung hatten sich offenbar tief eingegraben. Eigentlich, so Weißgerber, bräuchten Aussteiger eine Verhaltenstherapie.
Nun berichte er seit Jahren öffentlich von seiner Geschichte, weil er Verantwortung übernehmen wolle. »Ich kann die Sachen, die ich gemacht habe, nicht rückgängig machen«, sagt Weißgerber. Noch heute seien Leute, die er beeinflusst habe, aktiv in der Neonazi-Szene, der AfD oder der Identitäten Bewegung.
Mit dem Neonazi Ralf Wohlleben ist er eigenen Angaben zufolge früher etwa befreundet gewesen - Wohlleben war ein Unterstützer der rechten Terrorgruppe NSU und sitzt wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen in Haft.
Wenn man ihn heute fragt, ob er vollkommen »de-radikalisiert« sei, schaut Weißgerber ernst und sagt: »Die wichtigsten Sachen sind durch.« Seine Nazi-Tätowierungen hat er alle längst überstechen lassen.