Die Tageszeitung »WELT« hat am vergangenen Freitag in ihrer Online-Ausgabe über einen »Skandal« am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam berichtet: »Im Fokus steht der so umtriebige wie umstrittene Rektor selbst«, heißt es in Bezug auf Rabbiner Walter Homolka, der der im Jahr 1999 gegründeten Ausbildungsstätte für Rabbiner und Kantoren des liberalen Judentums vorsteht.
Es gehe um den Vorwurf der sexuellen Belästigung eines Studenten durch eine Lehrkraft des Kollegs. Und es seien weitere Fälle von Fehlverhalten, darunter sexuelle Belästigung, von früheren und jetzigen Studierenden und Lehrkräften gemeldet worden.
Zentralrat Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, erklärte dazu am selben Tag: »Eine solche Nachricht über eine Ausbildungsstätte für Rabbinerinnen und Rabbiner entsetzt mich.« Eine schnellstmögliche und umfassende Klärung des gesamten Sachverhalts sei unverzichtbar.
»Eine solche Nachricht über eine Ausbildungsstätte für Rabbinerinnen und Rabbiner entsetzt mich.«
Zentralratspräsident Josef Schuster
In einer vom Abraham Geiger Kolleg versandten Stellungnahme von Rabbiner Walter Homolka hieß es: »Angesichts der heute in der Presse erhobenen Anschuldigungen möchte ich meiner persönlichen Betroffenheit Ausdruck verleihen. Es tut weh, solche Dinge lesen zu müssen.«
Auf das Verhalten ihm nahestehender Menschen habe er keinen Einfluss »und möchte ihn auch nicht haben«, so Homolka weiter. Er habe sich dazu entschieden, bis zur Klärung des Sachverhalts »die aktive Ausübung meiner Aufgaben in der jüdischen Gemeinschaft und an der Universität ruhen zu lassen«.
Rückendeckung erhielt Homolka von Irith Michelsohn. Die Generalsekretärin der Union progressiver Juden (UpJ) und Vorsitzende der liberalen Jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld zeigte sich besorgt darüber, dass die Vorwürfe gegen Homolka dazu dienen könnten, »dass man ein Lebenswerk zerstören will«.
Liberale Juden hätten über viele Jahre hinweg um Anerkennung gekämpft. »Es wäre schade, wenn man uns jetzt das liberale Werk kaputt machen würde, denn das liberale Judentum gehört eben auch zum Judentum und lebt gerade von seiner Pluralität. Generell gilt für mich immer noch die Unschuldsvermutung.«
Rücktrittsforderung Homolka ist Vorsitzender der UpJ. Liberale jüdische Gemeinden in Göttingen, Freiburg im Breisgau und Hamburg forderten, er müsse den Vorsitz sofort abgeben. Nach Auffassung der Göttinger Gemeinde trete mit Bekanntwerden der Vorwürfe gegen den Rabbiner »ein struktureller Machtmissbrauch zutage, welcher dem liberalen Judentum widerspricht«.
Die Freiburger Egalitäre Jüdische Chawurah Gescher verlangte den sofortigen Rücktritt Homolkas »von allen seinen Ämtern«. Er habe »als Rektor eine besondere Fürsorgepflicht gegenüber den Studierenden, der er in keiner Weise nachgekommen« sei. Unabhängig von der strafrechtlichen Relevanz seines Verhaltens könne man »die moralische Integrität des Vorsitzenden nicht mehr erkennen«. Auch der Tempelverband der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hamburg unterstützte die Rücktrittsforderungen.
Die Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, Rebecca Seidler, berichtete, dass sich Vertreter der liberalen jüdischen Gemeinden in Deutschland am Montag zu einer Krisensitzung getroffen hätten. Man habe dort die Sorge geäußert, dass der Rabbiner Einfluss auf den Aufklärungsprozess nehmen könnte. »Aus diesem Grund fordern wir seinen Rücktritt von all seinen Ämtern, damit dieser Aufklärung nichts im Wege steht«, so Seidler.
rabbiner Aus dem Kreis der in Potsdam ausgebildeten oder tätigen Rabbiner gab es wenige Stellungnahmen. Der Luxemburger Rabbiner Alexander Grodensky, der am Abraham Geiger Kolleg studiert hat, sagte unserer Zeitung: »Die konkreten Vorwürfe der sexualisierten Gewalt decken sich nicht mit meinen eigenen Erfahrungen als Student am AGK.« Die Ausbildung am Kolleg müsse »weiterhin gewährleistet sein«, das aktuelle Führungsteam verdiene dabei Unterstützung, so Grodensky.
Rabbiner Netanel Olhoeft, der als akademischer Mitarbeiter an der Potsdamer School of Jewish Theology tätig ist, bezeichnete die Zustände am Abraham Geiger Kolleg hingegen als »düster«. Das Gebot der Stunde laute für die Verantwortlichen, »die nun erfolgte Zäsur als Anlass zu einer längst überfälligen, weitreichenden Neubesinnung zu nutzen – und nicht zu versuchen, den Sturm auszusitzen«.
Aus dem Kreis der in Potsdam ausgebildeten oder tätigen Rabbiner gab es wenige Stellungnahmen.
Jonathan Schorsch, Professor für jüdische Religions- und Geistesgeschichte an der Universität Potsdam, ist der Meinung, dass viele die Probleme nicht sehen wollten und sie sogar verharmlost hätten, einige täten das sogar weiterhin. Er applaudiere all jenen, die den Mut hätten, ihre Angst zu überwinden und »dieses anhaltende Missbrauchsmuster zu entlarven«.
Für Brandenburgs Kultusministerin Manja Schüle teilte ihr Sprecher auf Nachfrage unserer Zeitung mit: »Die Ministerin nimmt die Vorwürfe sehr ernst. Sie geht davon aus, dass die Vorwürfe durch die Universität Potsdam umfassend und unabhängig aufgeklärt werden.«
untersuchungskommission Christoph Schulte, Professor für Jüdische Studien und Philosophie an der Universität Potsdam, unterstützt die Forderung nach einer externen Untersuchungskommission. Die Aufklärung seitens der Universität Potsdam sei schwierig, da das Abraham Geiger Kolleg eine unabhängige religiöse Institution sei, deren Mitarbeiter nicht bei der Universität angestellt seien und von dieser deshalb auch nicht zur Rechenschaft gezogen werden könnten, so Schulte.
Das AGK ist laut Eigendarstellung »eine private, nicht gewinnorientierte Einrichtung, gefördert aus privaten und öffentlichen Mitteln«. Es handelt sich laut Eintrag im Handelsregister um eine gemeinnützige GmbH, Geschäftsführer ist Walter Homolka.
Das Abraham Geiger Kolleg versuchte am Montag, diesmal mit einer Stellungnahme der »derzeit vollumfänglich mit der Geschäftsführung« betrauten Rabbiner Edward van Voolen und Kanzlerin
Anne-Margarete Brenker, eine Klarstellung. Darin hieß es, man habe im Dezember 2020 »unverzüglich« gehandelt und eine »unabhängige interne Kommission« zur Prüfung der Vorwürfe eingesetzt.
Der betreffende Mitarbeiter habe eine Abmahnung erhalten; ihm sei zudem der Lehrauftrag entzogen worden. Im Februar – nach Bekanntwerden eines zweiten Falls sexualisierter Belästigung durch denselben Mitarbeiter – sei das Arbeitsverhältnis mit ihm sofort beendet worden. Nachdem man nun mit den im WELT-Artikel verbreiteten weitergehenden Vorwürfen »erstmalig konfrontiert und davon erschüttert« worden sei, widme man sich »aktuell mit voller Konzentration der Einleitung der notwendigen Aufklärungsmaßnahmen«.
Anwaltskanzlei Zentralratspräsident Josef Schuster wiederholte am Dienstag die Forderung, dass es eine »vorbehaltlose, lückenlose und völlig unabhängige Untersuchung« der Vorwürfe geben müsse. Die Sache habe nicht nur eine strafrechtliche Dimension, sondern betreffe auch »das moralische Verhalten von Führungspersönlichkeiten und Mitarbeitern in jüdischen Einrichtungen sowie den Schutz und die Rechte der Betroffenen«.
Er ergänzte: »Einem mit Vorwürfen Konfrontierten muss stets eine faire Chance gegeben werden, sich zu verteidigen. Sollten sich die Vorwürfe jedoch als berechtigt erweisen, wäre ein Verbleib in den bisherigen Ämtern und Positionen und in Zukunft auch an anderen verantwortungsvollen Stellen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ausgeschlossen.«
Josef Schuster kündigte an, mit ausdrücklicher Unterstützung der betroffenen Institutionen eine Anwaltskanzlei mit der Prüfung des Vorfalls zu beauftragen.
Schuster kündigte an, mit ausdrücklicher Unterstützung der betroffenen Institutionen eine Anwaltskanzlei mit der Prüfung des Vorfalls zu beauftragen. Deren Ergebnisse würden in anonymisierter Form der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Damit solle dem Leid der Betroffenen Rechnung getragen sowie weiterer Schaden von der jüdischen Gemeinschaft abgewendet werden.
Schwer enttäuscht über die Vorgänge am Abraham Geiger Kolleg zeigte sich unterdessen der langjährige Präsident des Leo-Baeck-Instituts, Michael Meyer. »Ich hatte große Hoffnungen für das Geiger-Kolleg und für die rabbinische Ausbildung in Deutschland.« Auch er forderte eine »unparteiische Untersuchung, die Vorschläge für die Zukunft macht«. Meyer, der von 1991 bis 2013 an der Spitze des Leo-Baeck-Instituts stand, sagte: »Deutschland war die Heimstätte des liberalen Judentums. Hoffentlich wird ihr Wiederaufbau nicht langfristig beschädigt.«
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