Meinung

Erinnerung schwänzen

Die Stimmung kippt: Statt dem Gedenken an die Vergangenheit regiert das schrecklich gute Gewissen

von Rabbiner Andrew Aryeh Steiman  04.09.2012 09:45 Uhr

Rabbiner Andrew Steiman Foto: Pierre Kamin

Die Stimmung kippt: Statt dem Gedenken an die Vergangenheit regiert das schrecklich gute Gewissen

von Rabbiner Andrew Aryeh Steiman  04.09.2012 09:45 Uhr

Oft und gern führe ich Schulklassen durch Frankfurter Synagogen und das Jüdische Museum. Es fällt dabei auf, dass sich immer ein oder zwei Schüler von ihren Eltern für solche Besuche »entschuldigen« lassen. Im Gespräch mit den Lehrkräften stellt sich heraus, dass diese Kinder allesamt die schwierigsten sind: aus bildungsfernen Problemschichten, -bezirken und -familien. Gerade in den vergangenen Wochen fehlten mehr Jugendliche als üblich.

Das ist genauso wenig ein Zufall wie der Überfall auf Rabbiner Daniel Alter in Berlin. Untersuchungen der Amadeu Antonio Stiftung zufolge sinkt die Hemmschwelle potenzieller Täter zur Gewalt, wenn sie mit Zustimmung der sozialen Umwelt rechnen können. Besonders deutlich war das in Rostock vor genau 20 Jahren zu beobachten, als das Publikum die Brandstifter immer wieder zu neuen Untaten anstiftete. Gewalt ist nur möglich, wenn das Gewissen dazu stimmt.

pogromstimmung Zum Jahrestag der Rostocker Pogrome sprach unser Bundespräsident davon, dass so etwas nie wieder vorkommen soll. Inzwischen aber gibt es auch das Phänomen der virtuellen Pogromstimmung. Das ist keinesfalls ein schnöder Shitstorm: Diese Atmosphäre erzeugt auch in der realen Welt eine Ermunterung zum Zuschlagen. Diejenigen, die Rabbi Alter attackierten, waren zwar arabische Jugendliche. Doch auch ein hessischer Arzt fühlt sich in dieser Stimmung bemüßigt, einen jüdischen Beschneider anzuzeigen. Nicht einen islamischen, obwohl über 50 mal mehr islamische Knaben in Deutschland beschnitten werden als jüdische. Juden sind eben die besseren Opfer.

»Du Opfer!«, »Du Jude!«, heißt es schon lange auf deutschen Schulhöfen. Inzwischen – nicht zuletzt durch die Beschneidungsdebatte – ist diese Stimmung auch in den Kommentarspalten der Zeitungen, den Feuilletons, den Leserbriefen und den Lehrstühlen angekommen. Die öffentliche Stimmung erzeugt derzeit das scheinbar gute Gewissen, das zum Ausleben der alten und neuen Ressentiments benötigt wird.

Es gibt natürlich auch diejenigen, die tatsächlich dagegen ankämpfen. Aus eigener Erfahrung sind mir die vielen wunderbaren Lehrer, Pfarrer und Eltern bekannt, die auch in städtischen Problembezirken harte, schwere, mutige Arbeit gegen diese Stimmung leisten. Doch sie und ihr Engagement werden durch die derzeitige Stimmung desavouiert. Es ist Schluss mit lustig! Die Diskussion, die Stimmung – alles ist mittlerweile unerträglich geworden. Jahre der mühevollen Kleinarbeit, Schulklasse für Schulklasse – wie weggespült.

Der Autor ist Rabbiner der Budge-Stiftung in Frankfurt/Main und Diplompädagoge.

Niederlande

»Da findet ein Pogrom statt«: Nach Unruhen in Amsterdam schickt Israel Flugzeuge

Israelische Politiker: bestürzenden Gewaltszenen, bei denen »propalästinensische« Täter Jagd auf Juden machen

 08.11.2024

Hannover

Elisa Klapheck: Zu viel Rede von Antisemitismus, zu wenig von Juden

Jüdische Tradition gehöre zur Grundlage moderner Demokratie, sagt die Rabbinerin

 07.11.2024

Resolution gegen Antisemitismus

Ein Lob dem Bundestag

Das Parlament hat der massiven Kritik am Entschließungsantrag widerstanden. Gut so, findet unser Redakteur

von Michael Thaidigsmann  07.11.2024

Champions League

Dieses Banner ist für die UEFA kein Problem

Beim Spiel Paris Saint-Germain gegen Atletico Madrid forderten PSG-Fans die Vernichtung Israels

 07.11.2024

Wahlausgang USA

So reagieren jüdische Organisationen und Prominente auf Trumps Sieg

Die Reaktionen reichen von Freude über Neutralität bis hin zu Resignation

von Imanuel Marcus  07.11.2024

Berlin

Özoğuz entschuldigt sich im Plenum für Gaza-Post

Doch die Kritik reißt nicht ab

 07.11.2024

Berlin

Was es nun in Deutschland braucht

Ein Gastbeitrag von Zentralratspräsident Josef Schuster zum Aus der Ampel-Koalition

 07.11.2024

Ukraine

Was hinter Trumps 24-Stunden-Frieden steckt

Der Chefredakteur der Kyiver jüdischen Zeitung »Hadashot« kommentiert Trumps Pläne für die Beendigung des Krieges mit Russland

von Michael Gold  07.11.2024

Bundestag

Resolution gegen Antisemitismus angenommen

Der interfraktionelle Antrag für den Schutz jüdischen Lebens hat eine Mehrheit gefunden. Am Donnerstagmorgen wurde darüber im Bundestag debattiert

von Joshua Schultheis  07.11.2024 Aktualisiert