Auf der Brunnenstraße in Berlin-Mitte sind gepanzerte Fahrzeuge und Scharfschützen postiert. Das Gebiet um die Synagoge Beth Zion ist komplett abgeriegelt – auch die gegenüberliegende Straßenseite. Überall steht Polizei.
Der 9. November 2023 ist kein Gedenktag wie jeder andere. Nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober an mehr als 1200 Menschen in Israel, das in seiner Grausamkeit Erinnerungen an die Schoa wachruft, ist in der jüdischen Welt nichts mehr wie vorher. Der Krieg, den die Hamas-Terroristen mit ihren Gräueltaten in Israel und der Verschleppung von mehr als 200 Geiseln nach Gaza begannen, ist auch in der Brunnenstraße spürbar. Die blutige Geschichte des 20. Jahrhunderts, die sich »nie wieder« ereignen soll, fühlt sich an diesem Novembertag nicht abgeschlossen an.
Nicht für ein Dutzend Israelis, die als Gäste zur zentralen Gedenkveranstaltung zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht des Zentralrats der Juden in Deutschland gekommen sind. Die Angehörigen israelischer Geiseln in Gaza sitzen auf der Frauenempore der Beth-Zion-Synagoge. Sie tragen Bilder ihrer Liebsten auf Plakaten bei sich. Sie geben nach der Veranstaltung Interviews, sie funktionieren. Für ihre Familien. Aber es gibt Momente, in denen sie die Tränen nicht zurückhalten können.
GEBETE Wie zum Schluss des Gedenkens, als Zsolt Balla, Militärbundesrabbiner und Rabbiner der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig, das El Male Rachamim und das Kaddisch vorträgt. Balla legt allen Schmerz, der vorstellbar ist, in seine warme Tenorstimme, als er im Gebet an die Opfer der Schoa und im gleichen Atemzug an die Opfer des Massakers in Israel erinnert. Er nennt die NS-Konzentrationslager, aber auch die Tatorte, wo am 7. Oktober mehr als 1200 Menschen abgeschlachtet wurden: Sderot, Ofakim, Netiwot, Beʼeri, Nir Oz und andere.
Das Pogromgedenken findet an einem symbolträchtigen Ort statt. Das Bethaus Beth Zion ist eine ehemalige Privatsynagoge, die die Novemberpogrome 1938 unbeschadet überstanden hat. Das dazugehörige Zentrum der Gemeinde Kahal Adass Jisroel wurde nach dem 7. Oktober von bisher Unbekannten mit Molotow-cocktails beworfen. In der Brunnenstraße sind auch das Rabbinerseminar und ein Kindergarten untergebracht.
1938 hatten die Nationalsozialisten in der Nacht vom 9. auf den 10. November in Deutschland eine Gewaltwelle gegen Juden begonnen. In der Folge wurden mehr als 1300 Menschen getötet, 1400 Synagogen zerstört und beschädigt, 30.000 Juden in Konzentrationslager verschleppt. Es war der Beginn der systematischen Vernichtung der Juden in Europa.
Das Gedenken in der Brunnenstraße beginnt mit Musik aus dem Spielberg-Film Schindlers Liste, vorgetragen von Violinist Gabriel Adorjan. Ein Kurzfilm erinnert an Zerstörung und Wiederaufbau jüdischen Lebens in Deutschland. Darin spricht Elisa Klapheck, Rabbinerin des Egalitären Minjans der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und Vorsitzende der Allgemeinen Rabbinerkonferenz, vielen aus dem Herzen. Natürlich habe sie jetzt Angst, sagt sie. Aber: »Ich lasse mich nicht von der Angst leiten.« Ihr sei es wichtig, positive Inhalte des Judentums zu vermitteln.
Auf die Stimmungslage in der jüdischen Gemeinschaft geht auch Zentralratspräsident Josef Schuster als Redner ein. »Wer verstehen will, warum der Terroranschlag auf Israel in der jüdischen Gemeinschaft auch in Deutschland tiefe Traumata, Ängste und Verunsicherungen hervorruft, der muss sich bewusst sein, was auch 85 Jahre nach der Reichspogromnacht in den jüdischen Seelen vorgeht, wenn wieder Davidsterne an Häuser von Juden gemalt werden, wenn wieder jüdische Geschäfte attackiert werden.«
FUGEN Es sei etwas aus den Fugen geraten, bemerkt Schuster. »Es ist noch die Gelegenheit, dies zu reparieren. Doch dafür muss man sich auch eingestehen, was in den letzten Jahren schiefgelaufen ist, was man nicht hat sehen können oder wollen.« Der Zentralratspräsident bedankt sich beim Land Berlin für die besonderen Sicherheitsmaßnahmen, macht aber auch klar: »Schutz ist gut und gerade jetzt wichtig. Aber wir wollen keine Schutzschilde.« Die jüdische Gemeinschaft wolle »frei leben in Deutschland, in unserem Land; frei leben in dieser offenen Gesellschaft.«
MIGRATION Bundeskanzler Olaf Scholz sagt in seiner Rede, der Schutz von jüdischen Einrichtungen sei nötig. Doch wenn Jüdinnen und Juden in Deutschland hinter immer größeren Schutzschilden leben müssten, dann sei das unerträglich. »Antisemitismus treffe Jüdinnen und Juden seit Jahrhunderten besonders und trotz des Zivilisationsbruchs des Holocausts auch heute noch. »Das ist eine Schande. Mich empört und beschämt das zutiefst.«
Es komme nicht darauf an, ob Antisemitismus politisch oder religiös motiviert sei, ob er von links oder rechts komme, ob er hier gewachsen sei oder von außen ins Land getragen werde. Der Kanzler droht zudem Migranten mit Ausweisung, wenn sie sich antisemitisch verhalten. »Antisemitismus, wer das macht«, riskiere auch seinen aufenthaltsrechtlichen Status, sagt der Kanzler. Deutschland gründe darauf, »dass wir unteilbar zusammenstehen, dass Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens selbstverständlich dazugehören, dass wir Terror und Hass gemeinsam die Stirn bieten. Nie wieder – das gilt, das lösen wir ein. Heute, morgen und für alle Zeit.«
Deutschland stehe an der Seite des jüdischen Staates: »Israel hat das Recht, sich gegen den barbarischen Terror der Hamas zur Wehr zu setzen.« Es sei Terror, der den einzigen jüdischen Staat und seine Bewohner vernichten wolle. »Unsere Gedanken sind bei denen, die weiter – Kinder, Eltern, Geschwister, Ehepartner – um ihre Liebsten bangen, die als Geiseln in der Gewalt der Terroristen sind.« Mit einigen der Angehörigen habe er bei seinem jüngsten Besuch in Israel sprechen können. Scholzʼ Stimme klingt leise. Es scheint an der Situation zu liegen, die auch ihn erschüttert.
Auf der Frauenempore sitzen Angehörige von Israelis, die von der Hamas entführt wurden.
Wie wichtig der politischen Elite die Solidarität mit Juden ist, zeigt sich an der Gästeliste: Gekommen sind Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Stephan Harbarth, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig und das halbe Bundeskabinett: Innenministerin Nancy Faeser (SPD), Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), Familienministerin Lisa Paus (Grüne), Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne), Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP), zudem die SPD-Vorsitzende Saskia Esken, der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz, die CDU-Politiker Wolfgang Schäuble und Monika Grütters, der FDP-Politiker Christian Dürr, der Linken-Politiker Dietmar Bartsch, Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau, Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik und Kultursenator Joe Chialo (CDU), der israelische Botschafter Ron Prosor und viele andere. Auch Zentralratsgeschäftsführer Daniel Botmann, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, und Pavel Lyubarsky, Vorsitzender der Gemeinde Kahal Adass Jisroel, nehmen teil.
Für ein Gruppenbild mit Scholz und Schuster steht nach dem Ende der Veranstaltung auch eine israelische Filmstudentin im Hof der Synagoge. Sie lebt in Tel Aviv. »Ich heiße Shira«, sagt sie auf Nachfrage. »Ich bin 27. Ich bin im Kibbuz Beʼeri aufgewachsen. Vier meiner Familienmitglieder wurden am 7. Oktober ermordet. Sieben wurden nach Gaza verschleppt.« Auf Shira Havrons T-Shirt sind Namen und Bilder der Vermissten und Ermordeten gedruckt – unter ihnen auch Kinder.
Da ist es wieder. Das Grauen, das nicht vergeht.