Herr Wagner, Sie haben gerade in Karlsruhe zum Thema »Wie gefährdet ist unsere Demokratie?« gesprochen. Wie lautet Ihre Antwort bezogen auf Thüringen?
In Thüringen ist die Demokratie noch einmal deutlich stärker gefährdet als in den meisten anderen Bundesländern, allein weil die AfD als eine gesichert rechtsextreme Partei dort in Umfragen bei über 30 Prozent steht. Wenn kleinere Parteien bei der Landtagswahl an der Fünfprozenthürde scheitern, sind 30 Prozent gar nicht mehr so weit entfernt von einer absoluten parlamentarischen Mehrheit. Dazu kommt: In Thüringen wie auch in anderen vor allem östlichen Bundesländern haben wir eine sehr starke rechtsoffene bis rechtsextreme Mischszene aus den sogenannten Montagsspaziergängern, Pandemieleugnern, Putin-Propagandisten und Reichsbürgern oder auch Anhängern von rechtsextremen Kleinparteien. Die Lage ist mit einem Wort beschrieben: besorgniserregend.
Ist auf die bürgerliche Mitte kein Verlass mehr?
Rechtsextremes Gedankengut – zwar nicht im Sinne eines geschlossenen rechtsextremen Weltbildes – ist partiell auch in die Mitte der Gesellschaft eingedrungen, und das nicht erst seit gestern. Gefährlich wird es, wenn die bürgerliche Mitte, wenn Parteien wie die CDU oder die FDP ein wie auch immer geartetes Regierungsbündnis mit der AfD eingehen, sei es zum Beispiel in Form einer formellen oder informellen Tolerierung.
Welche Auswirkungen hätte das auf die Gedenkstättenarbeit?
Die Auswirkungen wären massiv. Im schlimmsten Fall könnte eine AfD-Politikerin oder ein AfD-Politiker Stiftungsratsvorsitzender werden. Noch stärker könnte der Einfluss in finanzieller Hinsicht sein: Der Stiftungshaushalt wird je zur Hälfte von Bund und Land getragen. Wenn eine von der AfD getragene oder tolerierte Regierung der Meinung ist, die Stiftung soll weniger Geld bekommen, dann kann sie das per Landtagsbeschluss durchsetzen. Und wenn der Landesanteil gesenkt wird, muss nach derzeitiger Rechtslage auch der Bundesanteil sinken.
Um welche Summen geht es?
Wir haben inklusive Baumittelinvestitionen und Drittmittelprojekten in diesem Jahr einen Haushalt von etwa zwölf Millionen Euro.
Die AfD hat mehrfach versucht, an Veranstaltungen zum Holocaust-Gedenken teilzunehmen. Bisher haben Sie Vertretern dieser Partei stets die Tür gewiesen.
Ja, seit Björn Höcke 2017 in einer Rede in Dresden eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad gefordert hat. Das war kurz vor dem Gedenken für die NS-Opfer am 27. Januar, und Höcke hat damals tatsächlich versucht, an der Gedenkfeier hier in Buchenwald teilzunehmen. Die Polizei hat ihn aufgegriffen und das für diesen Tag geltende Hausverbot umgesetzt.
Dieses Hausverbot gilt so nicht mehr?
AfD-Politiker haben hier kein Hausverbot. Aber sie haben das Verbot, an Veranstaltungen teilzunehmen. Sollte es eine Regierung geben, die von der AfD getragen ist, oder sogar einen Ministerpräsidenten Höcke, wird sich daran nichts ändern.
In die Gedenkstätte Sachsenhausen kamen immer wieder auch Besuchergruppen des Bundestages auf Einladung von AfD-Abgeordneten. Gab es so etwas auch in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald?
Nein, hier nicht. Ehrlich gesagt sind wir froh, dass wir weit genug von Berlin entfernt sind. Wenn die AfD eine Gruppe anmelden würde, würden wir eine Betreuung verweigern.
Kommt dann nicht rasch die Frage nach dem Neutralitätsgebot?
Ja, sie kommt. Und dann sage ich: Angriffe auf den gesetzlich definierten Stiftungszweck nehmen wir nicht hin. Solche Angriffe kommen ja von der AfD notorisch. Und genau an dieser Stelle endet dann auch unsere Neutralität. Dann sind wir nicht nur nicht neutral, dann sind wir parteiisch. Parteiisch im Sinne des Stiftungszwecks, im Sinne der Würde der NS-Verfolgten.
Wenn die AfD beim Holocaust-Gedenken Präsenz zeigen will, bezieht sie sich ja auf die Lehrsätze von Götz Kubitschek, Stichwort: Selbstverharmlosung. Was lässt sich gegen diese Strategie unternehmen?
Selbst wenn die AfD-Leute sich vor Ort gar nicht provokant äußern – allein die Anwesenheit eines Vertreters einer Partei, die gegen die Gedenkstättenarbeit ist, gegen die Erinnerungskultur, gegen die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, wäre eine Normalisierung. Das darf und wird es mit uns nicht geben.
Diese Normalisierung schreitet ja längst voran. AfD-Politiker sitzen in den Fernseh-Talkshows. Und sie werden auch eingeladen, wenn es vor den Landtagswahlen Podiumsdiskussionen mit den Direktkandidaten in den Wahlkreisen gibt. Was empfehlen Sie der Politik und den Medien?
Entzauberung funktioniert nicht. Als Demokrat oder Demokratin kann man in solchen Diskussionen nur verlieren, weil die AfD schon die Teilnahme immer als einen Sieg verbuchen wird, weil sie nämlich deren Position als Position innerhalb eines zulässigen Meinungsspektrums normalisiert und legitimiert. Zweitens: Gezielter Desinformation, wie die AfD sie betreibt, lässt sich im direkten Austausch nicht mit sachlichen Argumenten begegnen.
Die »Correctiv«-Recherche über das Treffen in Potsdam hat eine Welle von Protesten für die Demokratie ausgelöst, auch in der Provinz. Wie kann das verstetigt werden?
Diese Proteste sind außerordentlich positiv und machen Mut. Und dies, obwohl der »Correctiv«-Bericht eigentlich gar keinen Neuigkeitswert hatte. Denn von »Remigration« redet die AfD schon sehr lange. Jetzt ebbt die Demonstrationswelle etwas ab. Aber wichtig ist, dass die vielen Menschen, die sich gerade auch in der Provinz zivilgesellschaftlich engagieren, jetzt wissen, dass sie nicht allein sind. Wenn in einer Gemeinde 500 Leute demonstriert haben, dann heißt das für den Einzelnen: Da sind noch 499 andere, die nicht wollen, dass die Demokratie abgeschafft wird und wir in einem rechtsextremen, autoritären, nationalistischen Staat enden.
Jens-Christian Wagner ist Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Das Gespräch führte Matthias Meisner.