Herr Graumann, der Bundestag hat am Mittwoch der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Stand das Gedenken dieses Jahr – nach Beschneidungs- und Augstein-Debatte – unter veränderten Vorzeichen?
Das glaube ich nicht. Der Wert und die Wucht des Gedenkens bleiben immer gleich, unabhängig von den Wogen der tagesaktuellen Debatten. Ich finde es wichtig, dass es diesen Tag gibt. Manche kritisieren zwar das Gedenken als »sinnentleertes Ritual«. Dass aber der Bundestag sich damit regelmäßig beschäftigt und es eine Fülle von Veranstaltungen dazu in ganz Deutschland gibt, zeigt doch, dass der Tag seinen Sinn hat. Innehalten und Gedenken – das ist für uns Juden allemal wichtig.
Sie haben das Gedenken an die Opfer der NS-Zeit als vorbildlich gewürdigt. Warum?
Ich meine, dass wir bei allem, was wir manchmal zu kritisieren haben, positiv anmerken sollten, dass sich Deutschland mit seiner Vergangenheit in einer Art und Weise auseinandergesetzt hat, die vorbildlich ist. Das war allerdings auch mehr als nötig.
Was sagen Sie denen, die eine Instrumentalisierung des Gedenkens kritisieren?
Ich verstehe den Einwand, dass ritualisiertes Gedenken erstarrt wirken mag. Ich glaube aber, alles hat seinen Platz und seine Zeit – die Erinnerung im Bundestag, bei Gedenkfeiern, aber auch im Internet und in den Schulen. Wir müssen insgesamt versuchen, das Erinnern auch moderner zu gestalten und mehr vor allem die Köpfe und Herzen der jungen Menschen zu erreichen. Denn wichtig ist zu verstehen: Die Opfer von damals wurden doch erst von den Nazis zu Opfern gemacht, aus abstrakten Zahlen müssen wir einzelne Menschen machen, die ihre ganz eigenen Hoffnungen und Träume hatten – mit ihnen muss jeder Mensch Empathie empfinden, der ein Herz im Leibe hat.
Was gehört zum modernen Gedenken?
Zum Beispiel, dass in einer Zeit, in der es leider immer weniger Zeitzeugen gibt, auch wir von der zweiten Generation viel mehr davon vermitteln müssen. Wir haben die Traumatisierung unserer Eltern erlebt, wir tragen ihre Albträume doch immerzu in uns. Und wir müssen jetzt mehr bereit sein, ihre Geschichte weiterzugeben, davon zu erzählen. Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen. Auch wenn es uns selbst noch so wehtun mag.
Haben die Debatten der vergangenen Wochen und Monate mit ihren antijüdischen und antiisraelischen Ressentiments nicht auch deutlich gezeigt, dass die Erinnerung an tote Juden einfacher zu sein scheint als die Auseinandersetzung mit lebenden Juden?
Diese Debatten haben sehr heftige Gefühle in uns ausgelöst, aber man sollte sie nicht in Bezug zum Holocaust setzen. Das habe ich gerade in der Beschneidungs-Debatte – so verletzend sie gelegentlich auch geführt wurde – niemals getan und werde es auch jetzt nicht tun. Wir wünschen uns generell weniger Belehrung und mehr Sensibilität.
Mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden sprach Detlef David Kauschke.