Position

Erinnern heißt handeln

Eingang zur Synagoge in Halle: Die Holztür hielt am 9. Oktober 2019 dem Versuch des rechtsextremen Attentäters stand, ins Innere des Gebäudes einzudringen und ein Massaker unter den Betenden zu verüben. Foto: Stephan Pramme

Vor einem Jahr fuhr ein deutscher Rechtsextremist mit Schusswaffen und vier Kilogramm Sprengstoff zur Synagoge in Halle an der Saale, um am Versöhnungsfest Jom Kippur – dem höchsten jüdischen Feiertag – möglichst viele Gottesdienstbesucher zu töten. An diesem 9. Oktober 2019 splitterte nicht nur das Holz der Sicherheitstür, sondern auch der letzte Zweifel an der Tatsache, dass Juden in Deutschland angefeindet, attackiert und als Anschlagsopfer ausgewählt werden.

Die Tür der Synagoge hielt Schüssen und Sprengstoff stand. Doch ist es zuvorderst die Pflicht des Staates und der Zivilgesellschaft, jeder Gewalt und jeder Herabwürdigung gegenüber jüdischen Bürgerinnen und Bürgern aktiv entgegenzutreten.

Es schockiert und bedrückt mich, wenn ich in persönlichen Gesprächen vernehme, dass angesichts steigender antisemitischer Straf- und Gewalttaten von Betroffenen in lauten und leisen Tönen die Existenzfrage für jüdisches Leben in Deutschland gestellt wird.

EXTREMISMUS Antisemitismus ist zuallererst keine Herausforderung für Jüdinnen und Juden, sondern ein Sündenfall derjenigen Gesellschaft, die ihn hervorbringt! Antisemitismus ist eine weite Pforte in den Extremismus – und damit ein wirkmächtiger Gefahrenquell für die Demokratie. Dies möchte ich nicht als eine emphatische Phrase verstanden wissen, sondern als ein bitteres Zeugnis unserer deutschen Geschichte.

Antisemitismus ist ein wirkmächtiger Gefahrenquell für die Demokratie.

Die Bundesrepublik begreift sich und ihre Institutionen als radikalen Gegenentwurf zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Die Erinnerung an deren Verbrechen ist ihr moralischer Anspruch – und der Schutz der Menschenwürde ihr vornehmster Auftrag.

Die lautstarken Kritiker eines vermeintlichen »Schuldkults« beklagen eine mangelnde Souveränität Deutschlands – und entlarven dabei ihren Unwillen, das eigentliche Souveränitätsmerkmal der freiheitlichen demokratischen Grundordnung anzuerkennen: den freien Bürger, der Schutzrechte vor staatlicher Willkür genießt.

GRUNDGESETZ Doch tatsächlich dürfen weder die Monstrosität von Auschwitz noch die Errungenschaft des Grundgesetzes den Blick auf die Gegenwart verstellen. Wir laufen sonst Gefahr, den aktuellen Antisemitismus zu relativieren.

Erinnern heißt handeln! Indem wir heute die Zusammenhänge von Antisemitismus, Extremismus und Terrorismus benennen, übernehmen wir Verantwortung, anstatt sie nur zu beschwören. Indem wir heute den Kampf gegen Hass, Hetze und Gewalt führen, bezeugen wir die wehrhafte Demokratie.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz stemmt sich mit großem Aufwand an Personal und Ressourcen gegen die Lageverschärfung im Rechtsextremismus, der nicht erst mit dem Mord an Walter Lübcke und den Anschlägen von Halle und Hanau in offen sichtbaren Terrorismus kippt.

Wir nennen öffentlich Ross und Reiter antisemitischer Hetze.

Und wir nennen öffentlich Ross und Reiter antisemitischer Hetze, indem wir im August ein Lagebild veröffentlichten, das die verfassungsschutzrelevanten Ausprägungen des Antisemitismus umfassend ausleuchtet.

LAGEBILD Unser Lagebild bestätigt, dass Antisemitismus bei auffallend vielen Feinden der Demokratie in unterschiedlicher Ausprägung manifest ist, auch im Ausländer- und Linksextremismus.

Zweifellos ist er ein dominantes Element in der Ideologie des gesamten islamistischen Spektrums – und fester Bestandteil aller rechtsextremistischen Ausdrucksformen. Insbesondere dessen gewaltorientierte Szene kultiviert einen ausgeprägten Judenhass und extreme Vernichtungsfantasien.

Demgegenüber operieren einzelne Akteure der sogenannten Neuen Rechten mit subtileren, codierten Botschaften, um antisemitische Ideologeme in breite Bevölkerungsschichten zu überführen.

Besonders beunruhigend ist die dynamisierende Funktion des Internets.

Besonders beunruhigend ist die dynamisierende Funktion des Internets für antisemitische Propaganda. Die Tat von Halle kann als ein Musterbeispiel für eine globalisierte Form des Antisemitismus und einen digitalisierten Ideologietransfer angesehen werden.

Auch die Instrumentalisierung der Covid-19-Pandemie wäre ohne digitale Kommunikationstechnologie in diesem Umfang nicht möglich. Es ist bezeichnend, dass rechtsextremistische Agitatoren die aktuelle Krise in den uralten Mythos einer jüdischen Weltverschwörung einbetten.

KERN Dieses Muster führt uns zum Kern des Problems: Antisemitismus ist nicht einfach eine quantifizierbare Summe von Straftaten. Antisemitismus ist eine menschenfeindliche Weltanschauung. Er ist die älteste und hartnäckigste Verschwörungstheorie – und sein Irrationalismus lastet seit Jahrhunderten als dunkler Schatten auf der europäischen Kulturgeschichte.

Damit sich die verpflichtende Losung »Nie wieder!« erfüllt, müssen Demokraten immer wieder geschlossen Widerstand leisten, wenn sich der Antisemitismus erhebt.

Thomas Haldenwang ist seit November 2018 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV). Unmittelbar nach seiner Ernennung kündigte er eine verstärkte Fokussierung des BfV auf den Rechtsextremismus an. Die Vertreter der Neuen Rechten seien »die Superspreader von Hass und Gewalt«, sagte Haldenwang zwei Jahre später, im Juli 2020. Er verwies dabei explizit auf Organisationen wie die »Identitäre Bewegung« und den inzwischen offiziell aufgelösten rechtsextremen »Flügel« in der AfD.

Meinung

Wenn deutsche Ex-Diplomaten alle antiisraelischen Register ziehen

Deutschland darf nicht länger schweigen? Eine Erwiderung von Daniel Neumann auf den vielsagenden »FAZ«-Gastbeitrag ehemaliger Botschafter

von Daniel Neumann  18.04.2025

Einspruch

Niemals vergessen!

Eva Umlauf will nicht hinnehmen, dass immer mehr Deutsche einen Schlussstrich unter die NS-Zeit ziehen möchten

von Eva Umlauf  18.04.2025

Meinung

Der verklärte Blick der Deutschen auf Israel

Hierzulande blenden viele Israels Vielfalt und seine Probleme gezielt aus. Das zeigt nicht zuletzt die Kontroverse um die Rede Omri Boehms in Buchenwald

von Zeev Avrahami  18.04.2025

Kommentar

Bis zuletzt wollte Mustafa A. aus Lahav Shapira einen Täter machen

Dem Täter tue es leid, dass sein Angriff »instrumentalisiert wird, um jüdischen Bürgern Angst einzuflößen«. Ein unverfrorener Satz

von Nils Kottmann  17.04.2025

Berlin

Drei Jahre Haft für Mustafa A.

Der Prozess gegen den Angreifer von Lahav Shapira ist am Donnerstag zu Ende gegangen. Das Amtsgericht Tiergarten ging von einem antisemitischen Motiv aus und sprach den Täter der gefährlichen Körperverletzung schuldig

 17.04.2025

Berlin

100 Strafverfahren nach Besetzung der Humboldt-Universität

Die Polizei ermittelt unter anderem wegen Hausfriedensbruch und Volksverhetzung. Während der Besetzung sollen Aktivisten mutmaßlich Urin aus einem Fenster geschüttet haben

 17.04.2025

Analyse

Kleinster gemeinsamer Nenner

Im Koalitionsvertrag von Union und SPD steht kaum Konkretes über Israel und den Kampf gegen Antisemitismus

von Michael Thaidigsmann  17.04.2025

Berlin

Weitere Zeugenvernehmungen im Prozess gegen Angreifer auf Lahav Shapira

Der Prozess gegen Mustafa A. am Amtsgericht Tiergarten geht weiter. Noch ist unklar, ob am heutigen Donnerstag das Urteil bereits gefällt wird

 17.04.2025

Sebnitz

»Keine Hakennasen«: Jobanzeige eines Dachdeckers sorgt für Empörung

Die Stadtverwaltung der sächsischen Kreisstadt hat gegen den Urheber einer Anzeige im Amtsblatt Strafantrag gestellt

 17.04.2025 Aktualisiert