Tod von Henry Kissinger

»Er will nicht Teil unseres Volkes sein«

Henry Kissinger sel. A. (1923-2023) Foto: IMAGO/Xinhua

Schon zu Lebzeiten war Henry Kissinger, der am Mittwoch im Alter von 100 Jahren in Kent, Connecticut verstarb, eine Legende. Er war der erste Jude, der zum Secretary of State der USA - nach dem Präsidenten das wichtigste Amt in Washington - ernannt wurde. Mit seiner Shuttle-Diplomatie leistete Kissinger im Zuge des Jom-Kippur-Krieges 1973 einen wichtigen Beitrag für den Fortbestand des Staates Israels. Der Jüdische Weltkongress (WJC) ehrte Kissinger vor einigen Jahren dafür mit seinem Theodor-Herzl-Preis.

Und dennoch waren der gebürtige Fürther, der mit seiner Familie 1938 vor den Nazis nach Amerika floh, und seine knallharte, interessengeleitete Außenpolitik auch in jüdischen Kreisen sehr umstritten. Für Furore sorgte 2010 die Veröffentlichung von Tonaufnahmen Kissingers bei einem Gespräch im März 1973 mit dem damaligen Präsidenten Richard Nixon. Damals wurden die Stimmen auch unter amerikanischen Juden laut, die sich für mehr Druck auf die kommunistische UdSSR aussprachen. Im Gespräch mit Nixon sagte Kissinger dazu: »Die Auswanderung von Juden aus der Sowjetunion ist kein Ziel der amerikanischen Außenpolitik, und wenn sie Juden in der Sowjetunion in Gaskammern stecken, ist das kein amerikanisches Anliegen. Vielleicht ein humanitäres Anliegen.«

Aus einem später veröffentlichten Dokument des State Department von 1972 geht hervor, dass Kissinger die Besorgnis über das Schicksal der sowjetischen Juden als eher lästig empfand. Es gebe keine andere Gruppe, die so »selbstsüchtig« sei wie die amerikanischen Juden. Er nannte sie »obnoxious«, was mit »unausstehlich« noch eher zurückhaltend übersetzt ist.

Den katholischen Präsidentenberater und späteren Senator Daniel Patrick Moynihan, der für eine dezidiert proisraelische Politik eintrat, fragte er einmal ironisch, ob nicht zum Judentum konvertieren wolle. Kissinger: »Wir machen hier Außenpolitik. Das ist keine Synagoge.« In einem aufgezeichneten Telefongespräch vom November 1973 sagte der Außenminister, er werde wohl der erste Jude sein, der des Antisemitismus bezichtigt werde.

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Linke Juden hatten noch mehr Vorbehalte gegen Kissinger. Nicht nur sie prangerten ihn für seine aktivistische Außenpolitik an, insbesondere die Schützenhilfe des Geheimdienstes CIA beim Sturz des chilenischen Präsidenten Salvador Allende. Einige hielten Kissinger sogar für einen Kriegsverbrecher. Dabei erhielt er für sein Engagement um das Ende des Vietnam-Krieges 1973 sogar den Friedensnobelpreis.

Im Jahr 1985 – Kissinger war längst aus dem Amt geschieden - unterstützte er öffentlich den höchst umstrittenen gemeinsamen Besuch von Präsident Ronald Reagan und Bundeskanzler Helmut Kohl auf einem Soldatenfriedhof in Bitburg, auf dem auch Mitglieder der Waffen-SS begraben sind. Selbst in den Reihen von Reagans Republikanern kam dieser Besuch nicht gut an.

Auch der Idee, in Washington ein Holocaust-Museum zu bauen, stand Henry Kissinger skeptisch gegenüber. Da würde doch eh kaum jemand hingehen, und so etwas könne amerikanische Juden nur unnötig exponieren und damit den Antisemitismus wieder anfachen, meinte er. Selbst mit seiner eigenen Identität als Jude schien Kissinger manchmal zu fremdeln – oder wenigstens kokettierte er damit. »Wenn ich nicht zufällig (als Jude) geboren wäre, wäre ich Antisemit«, sagte er einmal. Und fügte hinzu: »Ein Volk, das seit zweitausend Jahren verfolgt wird, muss doch etwas falsch machen.«

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Auch im eigenen Haus sorgte der Außenminister Kissinger gleich zu Amtsantritt für Ärger unter jüdischen Diplomaten. Laut seinem Biografen Walter Isaacson bestand eine seiner ersten Amtshandlungen darin, jüdischen Mitarbeitern den Sonderurlaub an Rosch Haschana und Jom Kippur zu streichen.

Der Rabbiner Norman Lamm distanzierte sich schon 1975 in einer flammenden Rede von Kissinger und warf ihm vor, gar kein Jude sein zu wollen. »Wir sollten uns offen von ihm distanzieren. Er will nicht Teil unseres Volkes, seiner Geschichte und seines Schicksals, seiner Leiden und seiner Freuden sein. So soll es sein. Lasst uns nie wieder, weder in unseren Gesprächen noch in unseren Veröffentlichungen, auf das Jüdischsein dieses Mannes hinweisen.«

Man könne es Kissinger, so Lamm, nicht durchgehen lassen, wenn er ständig auf sein eigenes Schicksal als Geflüchteter hinweise, um zu begründen, warum er sich gegen Unterdrückung auflehne. »Ein Mann, der Millionen seiner Leidensgenossen ›vergisst‹, hat das moralische Recht verloren, ihr Leid und seinen eigenen Flüchtlingsstatus für seine eigenen Ziele auszunutzen.« Kissinger sei »ein Beispiel dafür, wie hoch ein assimilierter Jude in den Vereinigten Staaten aufsteigen und wie tief er in der Wertschätzung seiner jüdischen Mitbürger fallen kann.«

Kritik an ihm (auch scharfe) ließ Kissinger meist an sich abprallen. In späteren Jahren kehrte er aber seine jüdische Identität mehr hervor und stellte er sich offener an die Seite Israels. In seiner Dankesrede für den Theodor-Herzl-Preis des WJC 2014 sagte er, Amerika müsse sich bewusst sein, was es zu verteidigen gelte. »Das Überleben Israels und die Aufrechterhaltung seiner Fähigkeit, eine Zukunft aufzubauen, ist ein Grundsatz, den wir verfolgen werden, selbst dann, wenn wir es allein tun müssen.«

Kissinger weiter: »Die USA müssen lernen, sich in einer Weise zu positionieren, die das Überleben Israels sichert. Amerika muss ein zentraler Akteur und ein entscheidendes Element in vielen dieser Fragen sein.« Aber auch an Israels Adresse richtete Kissinger mahnende Worte: »Israel wird seinen Beitrag durch das Verständnis leisten, das es für die historischen und psychologischen Probleme derer aufbringt, die in demselben Gebiet leben.«

Für den amerikanischen Juristen Menachem Rosensaft, der Kissingers Karriere in den letzten Jahrzehnten aufmerksam verfolgte, war der jetzt Verstorbene in erster Linie ein hochintelligenter Berater, dem moralische Fragen eher zweitrangig waren und der strategische Ziele, die vorgegeben waren, umsetzen wollte. »Kissinger liebte die Nähe zur Macht, auch, als seine aktive Zeit vorbei war. Er war damals ja erst Anfang 50 und wollte weiter mitmischen. Er schaffte es, das Ohr vieler Präsidenten und Außenminister zu haben, sowohl von Republikanern als auch von Demokraten. Aber in gewisser Weise war Kissinger immer auch ein Opportunist.«

Dennoch billigt auch Rosensaft Kissinger ein großes Verdienst zu: »Ohne seine Shuttle-Diplomatie nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 wäre das unter Präsident Jimmy Carter abgeschlossene Camp David-Abkommen zwischen Ägypten und Israel wohl nicht oder zumindest nicht so schnell zustandegekommen.«

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