Nachruf Helmut Kohl

Er war ein Glücksfall

Helmut Kohl bei der Gedenkfeier zum 9. November in der Frankfurter Westend-Synagoge 1988 Foto: dpa

Nachruf Helmut Kohl

Er war ein Glücksfall

Der Politiker hat sich um die Erinnerung an die Schoa und um das jüdische Leben in Deutschland verdient gemacht

von Marian Offman  19.06.2017 18:12 Uhr

Vater der Einheit», «Ein großer Europäer», «Rekordkanzler»: Das ist jetzt wieder zu lesen, zu hören und zu sehen gewesen. Andere stellten unter Beweis, dass sie weder ihren Frieden mit Helmut Kohl gemacht haben, noch dem alten Grundsatz «de mortuis nil nisi bene» folgen wollten. Helmut Kohl polarisiert auch nach seinem Tod am vergangenen Freitag die politischen Streiter hierzulande.

Schon zu Lebzeiten war er das Ziel von Spott und gelegentlich persönlichen Herabsetzungen. Den linksliberalen Feuilletons galt Helmut Kohl im Vergleich zu seinem Vorgänger Helmut Schmidt als Vertreter der deutschen Provinz. Bei seinem Einzug ins Kanzleramt im Herbst 1982 hatte er eine schwierige ökonomische Situation vorgefunden. Die Wirtschaft schwächelte. Die Investitionsprogramme der sozialliberalen Regierung wirkten nicht wirklich. Hohe Arbeitslosigkeit, hohe Inflation und hohe Zinsen hatten sich wie Mehltau über die Ökonomie gelegt. International und vor allem in Europa hatte Deutschland durch einen mitunter schwierigen Umgang an Ansehen und Gewicht verloren.

vereinigung Helmut Kohl war, wie man heute sagen würde, der komplette Gegenentwurf zu seinem Vorgänger. Sein Naturell war ein Glücksfall für Deutschland und Europa. Er war ein Mensch, der offen auf seine Gesprächspartner zuging und Menschen für sich einzunehmen verstand, dabei aber nie politisch naiv handelte, wie sich in den Wochen der friedlichen Revolution in der DDR und der deutschen Wiedervereinigung zeigte.

Sein Regierungshandeln folgte strikt dem Prinzip, seinen Gesprächs- und Verhandlungspartnern nie etwas abzuverlangen, das sie schwerlich liefern konnten, ohne dass er dabei deutsche Interessen vernachlässigte. Da bewies Kohl einen grundsätzlich partnerschaftlichen Respekt gegenüber seinen Partnern. Im kleinen Kreis erklärte Helmut Kohl seine Rücksichtnahme gerade auf kleinere Partner der Europäischen Union gerne mit einem einfachen Bild: Die EU mit ihren so unterschiedlichen Ländern, kleinen, mittleren und einem großen mit über 80 Millionen Menschen, sei, als führen Menschen in einem Ruderboot mit einem Elefanten über den See. Das löse nicht gerade ein behagliches Gefühl aus, weil es nur funktioniert, solange sich der Dickhäuter ruhig verhält und sich nicht hektisch bewegt.

Wer nach der Triebfeder von Kohls Politik forscht, muss sich zwangsläufig mit seiner Herkunft und seiner persönlichen Lebensgeschichte befassen. Helmut Kohl war der letzte Bundeskanzler aus der Generation, die ihre Kindheit in der Zeit der Nazidiktatur und des Zweiten Weltkriegs erlebt hatte. Der Horror dieses Zivilisationsbruchs war dem 1930 geborenen Menschen Helmut Kohl nicht zuletzt wegen des Todes seines Bruders auf dem Schlachtfeld stets wache Erinnerung.

Er war tief davon überzeugt, dass ein geeintes Europa als größtes Friedensprojekt die einzig richtige Schlussfolgerung aus Holocaust, Krieg und Vertreibung ist. Die Zeit, als Deutschland sich von «Erbfeinden» eingekreist sah und dies den Kindern in den Schulen mit blindem Hurrapatriotismus quasi eingetrichtert wurde, sah er als stete Mahnung zu Frieden und Aussöhnung. Den Prozess der europäischen Einheit unumkehrbar zu machen, war daher sein größtes politisches Ziel. Deutschland als guter Nachbar in der Mitte war ein fundamentaler Beitrag zu diesem Europa.

israel Das Verhältnis Deutschlands zu Israel und seinen jüdischen Bürgern bewegte den Kanzler Kohl auch aus ebendiesen Gründen. Bei seinen Israelbesuchen gab es immer Treffen mit gebürtigen Deutschen, die der Naziterror aus ihrer Heimat vertrieben hatte. Sie fanden in der Regel abseits von Protokoll und öffentlicher Aufmerksamkeit statt. Der Gedankenaustausch mit diesen Menschen war dem Rekordkanzler ebenso wichtig wie die politischen Gespräche mit den Regierungschefs und Präsidenten des Staates Israel.

Helmut Kohl stellte die Frage, wie in Deutschland mit der Erinnerung an die Verbrechen in deutschem Namen und mit der daraus erwachsenden historischen Verantwortung umgegangen wird, in den Jahren seiner Kanzlerschaft oben auf seine politische Agenda. Jede neue Synagoge und jede Stätte der Erinnerung, wie etwa das Centrum Judaicum in Berlin, durfte Helmut Kohls Aufmerksamkeit sicher sein.

«Können Juden im Lande der Täter leben?» Die Diskussion über diese in Israel noch immer relevante Frage verfolgte Kohl mit großer Aufmerksamkeit und auch mit Sorge. Für ihn hatte jüdisches Leben in deutschen Städten einen sehr hohen Stellenwert. Um dies wieder Normalität werden zu lassen, betrieb er neben anderem auch eine Politik der stillen Diplomatie.

So öffnete seine Regierung die Grenzen nach Russland und gab jüdischen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion die freie Entscheidung, über Deutschland auszureisen und auch hier in den jüdischen Gemeinden zu bleiben. Diese von Helmut Kohl und Heinz Galinski getroffene Vereinbarung ist noch heute der Garant für den Fortbestand der jüdischen Gemeinden in Deutschland.

Wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen, hatte Helmut Kohls Vorgänger einmal gesagt. Es war Deutschlands und Europas Glück, dass Helmut Kohl diese Aussage nie akzeptierte und seine Visionen von Frieden und Freiheit hartnäckig verfolgte.

Helmut Kohl
Geboren 1930 in Ludwigshafen/Rhein in einer katholischen Familie. Schon 1946 trat Kohl in die CDU ein und arbeitete sich in verschiedenen Funktionen hoch: 1969 Ministerpräsident, 1973 CDU-Vorsitzender, 1982 Kanzler. 1984 sprach er in Israel über die «Gnade der späten Geburt», 1995 besuchte Kohl erneut Israel und wurde Ehrendoktor der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva. 1997 erhielt er den Leo-Baeck-Preis des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Meinung

Ein Bumerang für Karim Khan

Die Frage der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshof für Israel muss erneut geprüft werden. Schon jetzt ist klar: Der Ruf des Gerichts und seines Chefanklägers wird leiden

von Wolf J. Reuter  25.04.2025

Meinung

Die UN, der Holocaust und die Palästinenser

Bei den Vereinten Nationen wird die Erinnerung an den Holocaust mit der »Palästina-Frage« verbunden. Das ist obszön, findet unser Autor

von Jacques Abramowicz  25.04.2025

80 Jahre nach Kriegsende

»Manche Schüler sind kaum noch für uns erreichbar«

Zeitzeugen sterben, der Antisemitismus nimmt zu: Der Geschichtsunterricht steht vor einer Zerreißprobe. Der Vorsitzende des Verbands der Geschichtslehrerinnen und -lehrer erklärt, warum Aufgeben jedoch keine Option ist

von Hannah Schmitz  25.04.2025

Washington D.C.

Trump beschimpft Harvard als »antisemitische, linksextreme Institution«

Der US-Präsident geht vehement gegen Universitäten vor, die er als linksliberal und woke betrachtet. Harvard kritisiert er dabei besonders heftig

 25.04.2025

Berlin/Jerusalem

Herzog kommt in die Bundesrepublik, Steinmeier besucht Israel

Der Doppelbesuch markiert das 60-jährige Jubiläum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern

 25.04.2025

«Nie wieder»

Dachauer Gedenkstättenleiterin warnt vor ritualisierten Formeln

Die KZ-Gedenkstätte Dachau erinnert am 4. Mai mit einer großen Feier mit 1.800 Gästen an die Befreiung des ältesten Konzentrationslagers durch amerikanische Truppen am 29. April 1945

von Susanne Schröder  25.04.2025

Geschichte

Bundesarchiv-Chef warnt vor dem Zerfall historischer Akten

Hollmann forderte die künftige Bundesregierung auf, einen Erweiterungsbau zu finanzieren

 25.04.2025

Israel

Regierung kondoliert nach Tod des Papstes nun doch

Jerusalem löschte Berichten zufolge eine Beileidsbekundung nach dem Tod des Papstes. Nun gibt es eine neue

 25.04.2025

Berlin/Grünheide

Senatorin verteidigt ihre »Nazi«-Äußerung zu Tesla

Berlins Arbeitssenatorin spricht im Zusammenhang mit der Marke von »Nazi-Autos«. Daraufhin gibt es deutliche Kritik. Die SPD-Politikerin reagiert

 25.04.2025