Felix Klein, der Beauftragte der Bundesregierung für Jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, sieht es wie die drei Organisationen, mit denen er sich am Dienstag in Berlin für ein entschlossenes Handeln gegen Judenhass aussprach – eines, an dem sich sowohl die Politik als auch die Zivilgesellschaft beteiligen. Im Haus der Bundespressekonferenz wurden Klein und die Vertreter des Zentralrats der Juden in Deutschland, der Amadeu Antonio Stiftung und der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz deutlich.
In Hinblick auf Judenhass habe sich die Situation in den vergangenen Jahren nicht verbessert. Nur durch ein konzertiertes Handeln könne Antisemitismus gestoppt werden, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. Trotz regelmäßiger Bekenntnisse sei bislang wenig passiert. Der Tenor: Die alarmierenden, jüngsten Entwicklungen erfordern entschlossene Schritte.
PARADIGMENWECHSEL Jüdinnen und Juden seien weiterhin täglich Antisemitismus ausgesetzt, antisemitische Vorfälle nähmen zu und die Sorgen von Betroffenen würden »systematisch ignoriert«, hieß es. Als Beispiele nannten Klein und die Organisationen Angriffe auf Rabbiner auf offener Straße und die terrorverherrlichende Parolen bei israelfeindlichen Demonstrationen, wie sie regelmäßig in Berlin und andernorts stattfinden.
Den Parolen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer werde in der Regel nicht widersprochen. Der AfD wurde vorgeworfen, im Zuge der andauernden Energieversorgungskrise antisemitische Code-Wörter wie »Globalisten« zu bemühen. Zudem würden Stolpersteine, Mahnmale und Gedenkorte beschmiert und beschädigt. Von der documenta und den problematischen Reaktionen (sowie den nötigen, aber nicht erfolgten Reaktionen) auf mehrere Antisemitismus-Skandale in Kassel ganz zu schweigen.
Für den Zentralrat sagte dessen Vizepräsident Mark Dainow, das größte Gewaltpotential gegen Juden gehe vom Rechtsextremismus aus. »Wir erleben allerdings einen Paradigmenwechsel in Kunst und Wissenschaft, der beunruhigend ist und auch Tätern aus dem linksextremen Milieu oder mit muslimischem Hintergrund als Legitimation gilt.«
STRAFTATEN Im Schnitt würden fünf judenfeindliche Straftaten pro Tag begangen, sagte Dainow. »Auch in diesem Jahr werden wir uns auf einem sehr hohen Niveau bewegen.« Ihm zufolge hat die Gesellschaft viel auszuhalten, auch aufgrund des russischen Krieges gegen die Ukraine. »In diesen unsicheren Zeiten suchen die Menschen oft Antworten in Verschwörungstheorien«, so Dainow.
Auch erwähnte er Antisemitismus, der »im postkolonialen Eifer« entstehe. Dieser folge einem Plan, der sich eindeutig gegen den jüdischen Staat richte. Die »drei D«, nämlich Dämonisierung, Delegitimierung und doppelter Standard spielten hier eine große Rolle. Für den Zentralrat war Dainow zufolge die Erfahrung mit der Documenta »ernüchternd«, denn schon früh seien Hinweise auf Antisemitismus nicht gehört worden. »Was zu sehen war, übertraf sogar unsere kühnsten Albträume. Nun geht es darum, die Lehren zu ziehen.«
Dainow erwähnte die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung und des Anne Frank Zentrums und bedankte sich dafür. Diese wiesen pointiert auf die Situation hin.
SICHERHEIT Die derzeit stattfindenden Aktionswochen bieten Theateraufführungen, Seminare, Podiumsdiskussionen und Stadtrundgänge. Diesmal ist auch eine Online-Kampagne zur Bewusstseinsbildung dabei, die sich unter anderem gegen Israel-bezogenen Antisemitismus wendet und auch die Frage stellt, weshalb Jüdinnen und Juden die Politik Israels vorgeworfen wird. Es geht auch um das vielschichtige Phänomen der sogenannten »Israelkritik«.
Zu den Forderungen, die Felix Klein, der Zentralrat und die anderen Beteiligten formulierten, gehören eine Verstärkung des Schutzes jüdischer Einrichtungen und von Betroffenen antisemitischer Gewalt inklusive »angemessener präventiver wie repressiver Maßnahmen, um nicht nur das Sicherheitsgefühl, sondern auch die konkrete Sicherheit zu stärken«.
DUNKELFELD Nach Ansicht der Initiative muss auch die Dokumentation antisemitischer Vorfälle verbessert werden. Die Initiatoren wiesen darauf hin, dass auch deren »Dunkelfeld unterhalb der Strafbarkeitsgrenze erhellt werden« müsse. In diesem Zusammenhang bestehen Felix Klein, der Zentralrat, die Amadeu Antonio Stiftung und die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz auch auf einer besseren Finanzierung der RIAS-Meldestellen, die antisemitische Zwischenfälle dokumentieren.
Grundsätzlich müsse die Arbeit der demokratischen Zivilgesellschaft gegen Antisemitismus abgesichert werden, hieß es. Eine nachhaltige Förderung sei wichtig, denn es könne nicht angehen, dass Projekte gegen Antisemitismus jedes Jahr um ihre Finanzierung bangen müssten.
Eine weitere Forderung steht nun im Raum: Die Perspektiven der Betroffenen müssten gehört und ernst genommen werden, betonte Felix Klein. Dies gelte bei allen Formen des Israel- oder Judenhasses. »Antisemitismus geht uns alle an«, so Klein. »Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass jüdische Stimmen in Zukunft systematisch
einbezogen werden.«
Im vergangenen Jahr seien 3027 antisemitische Straftaten registriert worden, so Klein, fast ein Drittel mehr als im Vorjahr. »Auch in der Hochkultur wurden wir damit konfrontiert, dass Grenzen verschoben wurden, was sagbar und zeigbar ist. Die Dämonisierung Israels gilt vielfach als vogue.« Juden würden weiterhin zu Sündenböcken gemacht, so Klein: »Bei allen Formen des Antisemitismus gilt: Wir dürfen sie nicht tolerieren und jüdische Stimmen müssen endlich gehört werden. Sichtweisen von Juden werden zu wenig gehört, und das macht mir große Sorgen.«
Klein kündigte eine nationale Strategie gegen Antisemitismus an. Dazu habe sich die Bundesrepublik zusammen mit allen anderen EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet. Bis Ende des Jahres soll die Strategie vorgelegt werden.
Für die Amadeu Antonio Stiftung meinte Tahera Ameer, die Aussage »Nie wieder!« sei »ein beständiger, gesamtgesellschaftlicher Auftrag und keine Floskel. Seit Jahren machen wir mit unseren Kampagnen sowie der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit deutlich, dass es einen aktiven und
selbstkritischen Umgang mit Antisemitismus braucht. Langsam gehen uns jedoch die Superlative für die roten Linien aus, die permanent überschritten werden.« Das sei kein gutes Zeichen für den Stand
der Antisemitismusbekämpfung, so Tahera Ameer.
Auch die Gedenkstätten und Erinnerungsorte werden zunehmend mit Antisemitismus konfrontiert, wie Deborah Hartmann von der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz weiß: »Heute wird die Beschäftigung mit der Schoa von vielen Seiten in Frage gestellt oder kritisiert. Darum müssen sich auch Gedenkstätten gegenüber neuen Formen des Antisemitismus wie der Abwehr von Erinnerung positionieren.«