Die renommierte 50. Münchner Sicherheitskonferenz diente der Proklamation eines Paradigmenwechsels in Deutschland. Bundespräsident Gauck, assistiert von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen, rief dazu auf, die über Jahrzehnte kultivierte und äußerst bequeme Zurückhaltung in der Militär- und Sicherheitspolitik aufzugeben.
Deutschland solle sich früher, entschiedener und substanzieller einbringen. Das militärische Engagement sei auszuweiten. Die Bevölkerung, die der Übernahme jeglicher internationaler Verantwortung kritisch gegenüberstehe, müsse einen Mentalitätswandel vornehmen. Der Bundespräsident fordert dementsprechend eine »neue gesellschaftliche Selbstverständigung« – es sei kein »Projekt der Eliten«.
geschichtsbücher Die Argumentationslinien für dieses »Projekt« klingen wie aus den Geschichtsbüchern abgeschrieben. Schon bei der Debatte um eine militärische Beteiligung auf dem Balkan hieß es: »Auch wer nicht handelt, übernimmt Verantwortung.« Wenn der Bundespräsident heute argumentiert, dass sich aus den nationalsozialistischen Gräueln gerade kein »Recht auf Wegsehen« ableiten ließe, sondern eine Verpflichtung zu handeln, erinnert dies an die Rechtfertigung des damaligen Außenministers Joschka Fischer 1999 für den Kosovokrieg: »Nie wieder Auschwitz«. Erleben wir eine Zeitschleife in der Sicherheitspolitik?
Nein, die Rechtfertigung ist dieselbe, aber die Zielrichtung eine andere: Ging es damals um das »Ob« eines Bundeswehreinsatzes in einem Gebiet, das die NS-Vernichtungsmaschinerie 58 Jahre zuvor heimgesucht hatte, geht es diesmal um das »Wie« in der Welt. 1993 starb der erste Bundeswehrsoldat in Kambodscha, unzählige Auslandseinsätze mit mehr als 100 Toten schlossen sich bis heute an. »Ob« die Bundesrepublik sich militärisch engagiert, steht gar nicht mehr zur Debatte. Es geht um ihre Rolle in diesem Engagement.
kernfragen Endlich werden Kernfragen um den Zweck und die nationale Strategie militärischer Einsätze thematisiert, die sich nicht nur jüdische Bundeswehrsoldaten vermehrt stellen. Sie haben das verbreitete Misstrauen gegenüber der deutschen Staatlichkeit abgelegt, vertrauen diesem Staat, wollen aber auch eine detaillierte Antwort darauf haben, wofür die Bundesrepublik im jeweiligen Konflikt steht und wofür sie notfalls sterben sollen.
Die Diskussion um die Rolle Deutschlands in der Welt kann leicht als Diskussion um eine Weltmachtrolle missverstanden werden. Gemeint ist aber wohl eher eine Stärkung des nationalen Profils in NATO sowie EU und, wenn man die Forderung der Verteidigungsministerin nach einem verstärkten Afrika-Engagement mitbedenkt, und ein Wiederaufleben der deutsch-französischen Außen- und Verteidigungspolitik. Inwieweit man zu einem weitergehenden Eingreifen militärisch derzeit überhaupt in der Lage ist, mag dahingestellt sein. Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Hellmut Königshaus, warnt jetzt schon vor struktureller Überforderung. Aber dies ist nicht nur ein militärischer Ansatz. Der Vorrang der Diplomatie wird nach wie vor betont.
Selbst in Israel findet um das »Ob« militärischer Einsätze Deutschlands keine ernst zu nehmende Diskussion statt. Man kennt und vertraut sich, auch auf militärischer Ebene. Als der israelische Ministerpräsident Ehud Olmert 2006 bat, deutsche Soldaten in eine internationale Schutztruppe für Süd-Libanon zu entsenden, war die Kooperation zwischen Bundeswehr und Zahal schon Routine.
staatsräson Wie Deutschland aus israelischer Sicht eine aktivere Sicherheitspolitik wahrnehmen sollte, liegt auf der Hand: Meint es Bundeskanzlerin Merkel mit ihrer Zusage vor der Knesset, Israels Sicherheit sei Teil der Staatsräson Deutschlands, wirklich ernst, so muss sich dies auch machtpolitisch in der nun auszufüllenden Führungsrolle ausdrücken: etwa dergestalt, dass Deutschland gegen die zunehmende Dämonisierung Israels in den sowie durch die EU-Staaten deutlicher Position bezieht. Deutschland sollte den Einfluss israelkritischer Staaten auf die EU-Außenpolitik in Sachen Nahost zurückdrängen.
Dazu braucht es aber Strategien jenseits der kleinsten gemeinsamen Schnittmenge mit den Partnern. Ob dies einer Regierung gelingt, die im kurzfristigen Krisenmanagement geübt ist, aber nicht in der Formulierung von Strategien, bleibt abzuwarten. Deutsche Wählerstimmen gewinnt man bei der jetzigen Stimmungslage für dieses Vorgehen ohnehin nicht. Die Regierung müsste sich daran gewöhnen, dass die Übernahme einer Führungsrolle auch damit einhergeht, von anderen weniger geliebt zu werden. Die polemischen Reaktionen auf das deutsche Krisenmanagement in der Eurokrise waren da nur ein kleiner Vorgeschmack.
Der Autor ist Oberst im Generalstab der Bundeswehr und stellvertretender Vorsitzender des Bundes jüdischer Soldaten.