Moskau, Budapest, die Vereinigten Staaten und Israel, zwischendurch immer mal wieder Moskau. Und jetzt Berlin. Zweifelsohne hat Ksenia Krimer schon eine Menge von der großen weiten Welt gesehen. Deshalb weiß sie auch ganz genau, wo sie auf gar keinen Fall leben möchte: in ihrer Geburtsstadt Moskau. Nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 war für die Historikerin das Maß voll und eine Rückkehr dorthin zu einer Sache der Unmöglichkeit geworden.
»Ich wurde in Moskau geboren, in eine ziemlich assimilierte Familie«, erzählt die Historikerin, eingepackt in einen Wollpullover und mit Schal um den Hals. Es ist einer dieser kühleren Tage, und es ist frisch in dem Berliner Altbau, wo sie jetzt wohnt. Für innere Wärme muss daher ein heißer Tee aus frischer Minze und Ingwer sorgen.
Ksenia Krimers Urgroßeltern sprachen noch Jiddisch, aus dem Schtetl hat es sie nach Moskau gezogen. Wie ihnen das angesichts der zahlreichen Restriktionen, die die Bewegungsfreiheit von Juden im russischen Zarenreich stark einschränkten, gelungen ist, darüber kann die junge Frau heute nur Vermutungen anstellen.
Leben auf einer Datsche vor den Toren Moskaus zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Dafür tauchen überraschend andere Details aus dem familienhistorischen Nebel auf. So dokumentieren jüngst wiederentdeckte Fotografien das Leben auf einer Datsche vor den Toren Moskaus zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine davon, wohl aus dem Jahr 1922, soll ihre Großmutter als einjähriges Kind zeigen, berichtet Krimer, und ihre Augen beginnen dabei zu strahlen.
In den Beständen des Moskauer Stadtmuseums fanden sich außerdem Fotos von der Chuppa ihrer Urgroßeltern, die 1918 traditionell geheiratet hatten. Ksenia Krimer ist gerührt, dass sich eine Museumsmitarbeiterin so sehr ins Zeug gelegt hat, um all diese Zeugnisse ihrer Familiengeschichte aus der Versenkung zu holen.
»Es ist doch etwas Tolles, einer exotischen Nationalität anzugehören!«
Über die eigene nationale Zugehörigkeit zu sprechen, war in der Familie allerdings unüblich – das gehöre sich einfach nicht, hieß es stets zur Begründung. Exakte Erinnerungen hat Krimer aber an den Moment, als sie sich in der ersten Klasse erstmals mit dem Wort »Jüdin« konfrontiert sah, und das ausgerechnet aus dem Mund ihrer besten Freundin.
»Ich hatte jemand anderen in Schutz genommen«, erinnert sich Krimer an die Situation. Für sie war das eine Selbstverständlichkeit. Zufällig sollte die andere Person ebenfalls jüdisch sein, weshalb die Freundin ungehalten reagierte. Ksenia würde Juden nur deshalb verteidigen, weil sie selbst Jüdin sei, lautete der Vorwurf.
Zu Hause wollte Ksenia dann von ihrer Großmutter wissen, was es mit dem Judesein auf sich habe. Lebte es sich mit der neuen Erkenntnis leichter? Der Erstklässlerin jedenfalls verlieh sie Flügel. Sie eilte zurück zu ihrer Freundin. »Es ist doch etwas Tolles, einer exotischen Nationalität anzugehören!« Lautes Lachen erfüllt das Zimmer. Ksenia Krimer bereitet es Spaß, diese Familienanekdote zum Besten zu geben.
Als Teenagerin in den 90er-Jahren
Als Teenagerin in den 90er-Jahren hörte sie dann – weil es nun unproblematisch war – viel israelische Musik, lernte Hebräisch und ging in die Synagoge. Über die Schoa wusste sie längst Bescheid, als sie 1996 Schindlers Liste im Fernsehen sah. Heute betrachtet sie den Film recht kritisch – damals jedoch löste er bei ihr ein regelrechtes Fieber aus.
Der Gedanke, sich aus wissenschaftlicher Perspektive mit dem Holocaust zu befassen, kam ihr aber erst nach Abschluss ihres Fremdsprachenstudiums. Im Jahr 2000 ging sie dann nach Budapest an die Central European University und im Anschluss daran nach Michigan, um sich dort für Judaic Studies einzuschreiben und letztendlich in Geschichte zu promovieren.
»Da habe ich schließlich verstanden, dass mich das Thema Vernichtung des europäischen Judentums interessiert«, erinnert sich Krimer. Es folgte ein Praktikum im Holocaust Memorial Museum in Washington, wo sie in die Recherchen für eine Enzyklopädie über Konzentrationslager sowie Ghettos im östlichen Europa mit eingebunden war. Das ganze Grauen wurde für sie durch Dokumente in den Archiven offengelegt, darunter die Massenexekutionen und medizinischen Versuche. »Es ist, als ob man selbst in die Erschießungsgräben vordringt«, versucht Ksenia Krimer ihre Empfindungen auf den Punkt zu bringen.
Dass sie sich persönlich all dem aussetzte, stieß in ihrem russischen Umfeld auf Unverständnis. »Als ich später nach Moskau zurückkehrte, stellte sich heraus, dass über all diese Dinge dort einfach nicht gesprochen wird.« Das war 2011. Damals zeigte schlichtweg kaum jemand Interesse an dem Thema. Ernüchterung, Distanz und vielleicht auch unterdrückter Zorn machen sich in Ksenia Krimers Stimme bemerkbar.
»Natürlich ist es belastend, wenn man buchstäblich erfasst, woraus ein Massengrab besteht. Ich habe den Schwerpunkt meiner Forschungsarbeit mit der Zeit dann doch ein wenig von dem eigentlichen Thema verlagert«, fährt die junge Wissenschaftlerin fort. Danach sollte sie sich mehr mit Eugenik beschäftigen und mit der Ideologie, die zur Schoa führte. Hinzu kamen Fragen nach den Problemen einer Musealisierung des Holocaust oder den Strategien der Überlebenden, das Erlebte zu verarbeiten.
Ksenia Krimer zählt, ohne lange nachzudenken, eine ganze Palette eigener Projekte auf, die ihr besonders am Herzen liegen. Hartnäckig habe sie dabei gegen alle Widerstände gekämpft. Als sie in Moskau endlich Institutionen fand, in denen sie ihr Fachwissen, ihre Kompetenzen und ihr wissenschaftliches Interesse einbringen konnte, schien ein lang gehegter Traum in Erfüllung zu gehen.
Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine hat ihren Traum platzen lassen.
Doch dann kam der Bruch. Nach dem 24. Februar 2022 war nicht mehr daran zu denken, weiterzumachen wie geplant, öffentliche Vorträge im Moskauer Toleranzzentrum zu halten und über die zweite Generation, über Traumata und über Erfahrungen in Israel zu sprechen.
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat ihren Traum platzen lassen
Krimers Stimme wird nun brüchig, sie spricht schneller, abgehackter. »Am 3. März hätte ich den ersten Vortrag einer Reihe halten sollen, aber an dem Tag habe ich Russland verlassen.« Ihr fehlte die Kraft, sich auf den Beinen zu halten, sie begriff, dass sie kurz vor einer Panikattacke stand. Sie konnte sich nicht vorstellen, über etwas anderes zu sprechen als über den Versuch der russischen Streitkräfte, Kyiv einzunehmen.
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat ihren Traum platzen lassen. »Ich habe nicht das Gefühl, dass jetzt meine Mission darin besteht, Aufklärung oder Bildungsarbeit zu betreiben«, stellt Krimer resigniert fest. Sie kann und will anderen nicht vorschreiben, was zu tun ist.
Mit sich selbst geht sie nicht weniger scharf ins Gericht. »Wir haben die wahre Natur des Regimes, der Gesellschaft und wie beide zusammenhängen, völlig unterschätzt.« Die Vertreterinnen und Vertreter der Moskauer Intelligenzija hätten aus einer Position der Selbstverliebtheit und Selbstgefälligkeit heraus mit ihresgleichen gesprochen. »Wir können nicht einfach fortfahren, anderen die Welt zu erklären.«
Sie spiegelt dem deutschen Publikum, dass es in einer russophilen Haltung verharre
Wenn die Historikerin überzeugt ist, dass etwas gesagt werden müsse, dann macht sie das absolut kompromisslos. Aktuell ist es ihr wichtig, dem deutschen Publikum zu spiegeln, dass es in einer russophilen Haltung verharre. Das liege nicht zuletzt am Umgang mit der historischen Schuld, aber auch an einer nicht ausreichend aufgearbeiteten imperialen Vergangenheit.
Die Ukraine sei ein Opfer komplexer Schuldgefühle gegenüber Russland, auch wenn in Deutschland die Zustimmung für Waffenlieferungen an die Ukraine insgesamt doch relativ groß sei. Krimer stoßen außerdem Überzeugungen auf, wonach einerseits von Putin, andererseits von einer ihm ausgelieferten russischen Bevölkerung die Rede sei. »Man muss die Realität verkomplizieren, nicht vereinfachen«, lautet ihr Credo.
Das gilt auch für ihren Kontakt zu in Russland Gebliebenen. Das Gespräch sei schwierig. Sie drifteten langsam auseinander – wie zerbrochene Eisschollen. Krimer verweist auf die Profiteure der Abwanderung sehr vieler gut ausgebildeter russischer Staatsbürger, deren Jobs jetzt oft von Leuten ohne adäquate Qualifikation besetzt – oder schlimmer noch – von regimetreuen Kadern übernommen wurden. Menschen agierten vorsichtig. Selbst bei Jüngeren sei der Hang zur Kriecherei den Vorgesetzten gegenüber stark ausgeprägt. Aus der Literatur oder den Erzählungen in der eigenen Familie ist das Wissen um Ängste vor Repressionen aus Sowjetzeiten weiterhin groß. Und es kann jederzeit aktiviert werden.
Diesem bedrückenden Moskau weint die Historikerin keine Träne nach, auch nicht bei dem Gedanken, womöglich nie wieder dorthin reisen zu können. »Aber es macht mich wütend, dass ich nicht einfach meine Eltern besuchen kann.« Und sie empört sich über die früher zur Schau gestellte Politikabstinenz von Kollegen, insbesondere aus der russischen Kulturszene. Selbst in der Emigration würden etliche kaum bereit sein zu reflektieren.
Aus ihrer Sicht verlaufen auch innerhalb des Exilantenmilieus Gräben
Krimer thematisiert dabei die Moskauer Eitelkeiten sowie den Narzissmus und den Unwillen, bei Veranstaltungen von Exilanten Vertretern nationaler Gruppen, unabhängig davon, ob es Burjaten oder Jakuten sind, ein Rederecht zuzugestehen. Die Gräben verliefen auch innerhalb des Exilantenmilieus, sagt sie. Das Moskau als Symbol jener schöngeistigen, apolitischen und imperialen Arroganz existiere nun auch in Berlin. »Ich versuche zu verstehen, was ich selbst davon mitgebracht habe«, so Krimer. Längst sind die Reste ihres Tees kalt geworden. Lacht sie doch noch einmal zwischendurch auf, dann allein mit sarkastischem Unterton.
Auch das Massaker vom 7. Oktober 2023 hat seine Spuren hinterlassen. Während ihrer Zeit in Israel hatte sie sich dem linken Spektrum zugehörig gefühlt, also genau jenen säkularen Israelis, die zur Zielscheibe der Hamas wurden. Wie viele linke Bekannte außerhalb Israels auf den Terror reagierten, war für sie ein Schock. Sie will keine Debatten über das Existenzrecht Israels führen. Aufseiten der Linken sieht sie keine Bündnispartner mehr – die Rechte aber vereinnahme den von ihr so definierten projüdischen Diskurs. »Im Inneren verstehe ich nicht mehr, auf wen ich mich noch stützen kann.« Ksenia Krimer atmet tief durch. Sie fühle sich in Deutschland nicht bedroht, aber eine gewisse Unsicherheit bleibt. »Es ist eine Erfahrung von Einsamkeit.«
Als Gastwissenschaftlerin am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) erfährt sie immerhin beruflichen Rückhalt. Krimer befasst sich mit der Inszenierung von Geschichte und der Entwicklung historischer Debatten während der Perestroika, die aus heutiger Perspektive durchaus aufschlussreich sind.
Eine Bankrotterklärung der Intellektuellen: Niemand hat eine Vision für das Russland der Zukunft
»Während der Perestroika hat das Wichtigste nicht stattgefunden«, lautet dabei ihr Fazit. Es gab immerhin Ansätze, unter anderem von dem Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow, über komplexe Sachverhalte nachzudenken – in einem globaleren Kontext auch über Atomwaffen. Heute, so Krimer, haben wir es mit einer kompletten Bankrotterklärung der Intellektuellen zu tun. Praktisch niemand könne mit einer Vision aufwarten, wie das Russland der Zukunft – oder ein anderes Gemeinwesen auf dem heutigen russischen Staatsgebiet – aussehen sollte, wenn der Krieg mit der Ukraine einmal beendet wird.
Aber neben all dem Frust bleiben auch Freunde, russischsprachige, sogar noch aus ihrer Studienzeit. Manches ist einfacher geworden, wie beispielsweise litauische Bekannte zu treffen. »In gewisser Hinsicht bin ich zu meinem Leben zurückgekehrt, das ich während meines Moskauer Intermezzos zeitweise hinter mir gelassen habe«, sagt Krimer. Dort ging sie zwar in ihrer Arbeit auf, aber das echte Leben spielte sich woanders ab, in Budapest oder in Berlin.