Chaim Weizmann soll einmal gesagt haben, die Freunde der Juden seien immer in der Opposition. Mit Papst Franziskus ist das anders. Nach mehr als 180 Tagen kann eine Zwischenbilanz gewagt werden. Manchmal scheint sie – aus jüdischer Sicht – sogar zu schön, um wahr zu sein. Ich möchte an dieser Stelle keineswegs die Intentionen von Franziskus anzweifeln. Fraglich ist aber, ob sich das gute Verhältnis des Papstes zu den Juden im Laufe seiner Amtszeit dauerhaft aufrechterhalten lässt.
Franziskus ist von Katholiken und für Katholiken gewählt worden. Er ist kein Papst der Juden. Dennoch überbieten wir uns damit, ihn mit Lob und Gaben zu überhäufen. So überreichte jüngst bei der Generalaudienz auf dem Petersplatz ein argentinischer Rabbiner dem Kirchenoberhaupt eine Kippa. Das könnte ihn noch in Verlegenheit bringen, zumal nicht jeder im Vatikan seine freundschaftliche Haltung teilt.
erwartungshorizont Um einen annähernd realistischen Erwartungshorizont abzustecken, sollten wir die Wurzeln der päpstlichen Haltung betrachten. Sie wird im Wesentlichen von zwei Parametern bestimmt, die er vor drei Wochen bei einem Treffen mit der Führung der jüdischen Gemeinde in Rom andeutete. »Es ist für beide Seiten wichtig, ihre theologischen Betrachtungen mittels eines Dialogs zu vertiefen«, sagte er.
Gleichzeitig sei es genauso wichtig, so Franziskus weiter, einen lebendigen Dialog alltäglicher Erfahrung entstehen zu lassen. »Ohne diese wahrhaftige und konkrete Begegnungskultur, die vorurteilslos und ohne Misstrauen zu echten Beziehungen führt, bleiben die Bemühungen auf intellektueller Ebene von geringem Wert.« Kein früherer Papst hat vor seiner Amtseinführung die Nähe von Rabbinern gesucht, sich nach fatalen Terroranschlägen solidarisch erklärt oder ein gemeinsames Buch mit einem Rabbiner veröffentlicht.
Der amerikanische Juraprofessor Menachem Rosensaft hat dem Papst den Text einer Gastpredigt zugesandt, die er kürzlich in einer New Yorker Synagoge gehalten hatte. Darin erzählt er, dass seine Eltern trotz der Gräueltaten, die sie in der Schoa erlebt hatten, nie an Gottes Präsenz zweifelten. Im Gegenteil, diese habe sie auch in schweren Zeiten begleitet und wiederaufgerichtet. Papst Franziskus bedankte sich prompt für die Zusendung des Predigttextes mit einer persönlichen E-Mail an Rosensaft.
schweigen Dabei zitierte er einen Vers aus dem ersten Buch der Könige (19,12): »Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln«. Martin Buber übersetzt »Kol Demama Daka« mit »Stimme verschwebenden Schweigens«. Damit wird ein anderer Sinn als die Abwesenheit Gottes während der Schoa gegeben. Er erklärt die Präsenz Gottes nicht im Sturm, Erdbeben oder Feuer, sondern im erhabenen wohlgesonnen Schweigen. Der Papst habe damit, so Rosensaft, die Predigt eher durch eine jüdisch-theologische Brille als durch eine christliche gelesen.
Franziskus zeigt keinerlei Berührungsängste mit Juden. Er gibt uns damit aber auch eine Aufgabe mit auf den Weg, die wir bis jetzt nicht meistern konnten: die Intensivierung des jüdisch-christlichen Dialogs. Die Mehrheit unserer Glaubensbrüder verschließt sich bislang dieser Aufgabe. Das lässt sich zum Teil auf eine gewisse Überheblichkeit (Bild des auserwählten Volkes) wie auch auf verständliche Ängste (Bild der Verfolgung) zurückführen.
Jüdische Partner für den interreligiösen Dialog bieten sich kaum an, während Christen reichlich daran teilnehmen. Letztere sind offenbar mehr am Dialog interessiert. Sie haben sich zunehmend zu ihren jüdischen Wurzeln bekannt und diese zu einem wichtigen Identitätsmerkmal ausgebaut. Franziskus ist ein glühender Vertreter dieser seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil sich anbahnenden Versöhnungstendenz. Nicht umsonst erklärte er: »Ein Christ kann kein Antisemit sein.«
missionierung Viele Juden verkennen aufgrund von Berührungsängsten die historische Gelegenheit, an einem fruchtbaren Dialog teilzunehmen, um endlich ein neues Kapitel im jüdisch-christlichen Verhältnis aufzuschlagen. Vermutlich haben sie immer noch Angst, zwangsläufig einer Missionierung ausgesetzt zu werden. Wenn man aber in der Nostra-Aetate-Erklärung von 1965 nachliest – »Die Kirche erwartet den Tag, der nur Gott bekannt ist, an dem alle Völker mit einer Stimme den Herrn anrufen und ihm Schulter an Schulter dienen« –, merkt man, dass diese Missionsabsicht auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben worden ist. Und laut Franziskus’ Aussage, »Das Volk Gottes hat einen eigenen Einblick und ein eigenes Verständnis des Weges, den Gott sie bittet zu befolgen«, stehen die Juden unmittelbar in der Gunst Gottes.
Berührungsängste hemmen die Dialogbereitschaft. Da kann ein Bonmot, das Martin Buber zugeschrieben wird, hilfreich sein. Er soll einem christlichen Geistlichen gesagt haben: »Wir beide erwarten den Messias. Sollte er kommen, wäre es besser, ihn nicht zu fragen, ob er das erste oder das zweite Mal gekommen ist.« Vermutlich hätte Franziskus dem zugestimmt.
Der Autor war von 2008 bis 2012 israelischer Botschafter beim Vatikan.