Wie lange ist das nun her? Ein halbes Jahrhundert, eine halbe Seite im Notizbuch der Clio, Geschichtsstoff für die Letztklässler. Ein Medienanlass, vergrautes Material aus den Archiven zu ziehen, ein Tag für die Berufsredner für jede Gedenkgelegenheit. Und sonst? Nicht nur ein schwarzer Tag in der an schwarzen Tagen wahrlich nicht armen deutschen Geschichte. Und ein Tag der Traumatisierung von unzähligen Menschen, von Berlinern zumeist, deren Lebensbahnen abrupt anders verliefen als erhofft oder gedacht.
Über die Kübel von Lügen und Euphemismen, die über den verängstigten Köpfen ausgeschüttet wurden, will ich gar nicht erst reden. Wenn auch nicht durch besondere Leistungen oder gar Charisma in die Geschichte eingegangen, so ist es dieser Mann doch mit dem Ausspruch: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!«, woraufhin sie kurz danach gebaut wurde.
Berlin All die Schicksale, von denen wir nur in wenigen Fällen Kunde haben, werden eines Tages mit den Betroffenen vergessen sein. Aufzeichnungen bleiben, Dokumente der Verzweiflung, vor allem literarische Zeugnisse, die wenigstens eine Ahnung von dem vermitteln, was die Spaltung der Welt in Berlin angerichtet hat. Keine Relikte von antikischem Format: nur ärmliche Überreste, die den Nachgeborenen wenig sagen werden.
Schon heute wissen jüngere Generationen nichts von der Vergangenheit ihrer Eltern und Großeltern, wie das bei jungen Leuten üblich ist: schon wieder die »ollen Kamellen«! Sie sind sich jedoch nicht bewusst, dass gewisse historische Ereignisse ihre Spuren noch in den Nachkommen hinterlassen. Was hinter der Mauer im östlichen Teil der Stadt und des Landes an Misstrauen und Vorsicht und Ängstlichkeit gedieh, hinterließ Markierungen in der Gegenwart.
Den vorauseilenden Gehorsam, seit Wilhelm II. bis Hitler und Ulbricht eingeübt, wäscht auch nicht das bekannteste Waschmittel wieder ab. Nur wenige wagten, wider den Stachel zu löcken, wagten, die Behauptung vom »Antifaschistischen Schutzwall« nicht anzuerkennen. Biermanns »Dreckverband« traf die Sache ziemlich genau. Mit dem scheinbaren Ewigkeitscharakter des Bauwerks fand man sich mit der Zeit ab, ballte nach gut altdeutscher Manier die Faust in der Tasche und stimmte in das Brechtsche Lied »Am Grunde der Moldau wandern die Steine/ groß bleibt nicht das Große, und klein nicht das Kleine ...« kopfnickend mit ein.
Aborigines Eine gewisse Ambivalenz jedoch herrschte unter den wenigen Juden, die nach dem Exodus der frühen 50er-Jahre zurückgeblieben waren, alte Leute, Nischen-Juden, die der Staat wie eine aussterbende Gruppe von Aborigines behandelte. Wa-
rum waren sie in dem Käfig mit den drei Buchstaben geblieben, wo doch andere Überlebende schon vor dem Mauerbau das Weite gesucht hatten.
Damals, Anfang der 50er-Jahre, als in der sogenannten »Volksdemokratie« Stalin und Konsorten vorgeb-lich von der reinen Lehre abgewichene Genossen aufhängen und hinrichten ließen, unter anderem mit dem Vorwurf des Zionismus, damals also waren die auch schon recht gealterten und Hitler entkommenen Kinder Ahasvers weitergezogen, nicht gerade begeistert oder überglücklich, denn sie wussten, sie kämen in ein Land, BRD genannt, in dem viele Verantwortliche für den Mord an ihren Verwandten in Amt und Unwürden saßen.
Die alte Bundesrepublik zur Zeit der Restauration war braun verseucht, das schreckte die ab, die schließlich in der DDR ausharrten. Nicht zu Globke, nicht zu Filbinger, nicht zu den Nazibeamten, die unbeschadet jetzt in den »Wiedergutmachungs«-Ämtern saßen, als hätten sie die Absicht, das wiedergutzumachen, was keinem je gelingen kann. Bei den Zurückgebliebenen herrschte die Ambivalenz: ei-nerseits war man Gefangener wie die übrige Bevölkerung, andererseits scheute man die Ausreise unter die Fittiche des verdächtig braunen Adlers.
Während sich die Sachsen und Thüringer, die Mecklenburger und Brandenburger noch mit ihrem regionalen Lebensbereich identifizieren und solchermaßen auch trösten konnten, waren die paar restlichen Juden in doppeltem und dreifachem Sinne heimatlos. Das freilich wird bei den Festivitäten zum Mauergedenktag kaum Erwähnung finden, weil die Zeugen, diese speziellen Zeitzeugen, nicht mehr existieren: eine Erinnerung ohne bleibenden ideellen Wert und darum zum Vergessen verurteilt.
Der Autor, 1929 in Berlin geboren, ist Dichter, Publizist und Essayist. 1979 verließ er die DDR und siedelte in die Bundesrepublik über.