Mit sechs Jahren sah Tova Gutstein zum ersten Mal, wie Nazis unweit ihres Wohnzimmerfensters eine Gruppe Männer erschossen. Aufgereiht an einer Wand, einer nach dem anderen - nur, weil sie Juden waren. Ihr Zuhause in Warschau lag nur ein paar Meter vom Umschlagplatz der deutschen Truppen entfernt, wo Hunderttausende Juden ermordet oder in Vernichtungslager deportiert wurden.
Eines der vielen schrecklichen Bilder, die die heute 90-Jährige im Gedächtnis hat, seit Jahrzehnten schon. »Jeden Abend schlafe ich mit den Erinnerungen ein. Und jeden Morgen wache ich damit auf«, erzählt die alte Frau, die 1940 zusammen mit ihrer Familie in der polnischen Hauptstadt ins angrenzende Ghetto verschleppt wurde.
Hart im Nehmen Gutstein sitzt nun auf einer Steinbank vor der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Das Alter sieht man ihr kaum an. Vor einem halben Jahr verletzte sie sich bei einem Sturz am Bein. »Davor sah ich aus wie 40«, lacht sie. Dazu fährt die linke Hand mit den rotlackierten Nägeln durch ihre weißen Haare. Seit dem Sturz ist sie zwar nicht mehr so gut zu Fuß. »Doch ich bin hart im Nehmen.«
Den Rollstuhl der Gedenkstätte schiebt die Holocaust-Überlebende trotz Steigung vor sich her. Sie geht lieber. »Ich bin es gewohnt zu kämpfen. Gegen Kälte, gegen Hitze, gegen Hunger, gegen Schmerz - deshalb werden wir auch so alt.«
Von den rund einer halben Million Juden, die im Warschauer Ghetto von den Nazis eingepfercht wurden, schafften es nur die wenigsten in die Freiheit. Viele starben an Krankheiten und Hunger. Andere wurden erschossen oder in Vernichtungslager deportiert. Heute jährt sich der Aufstand zum 80. Mal - eines der Symbole für den jüdischen Widerstand.
Von den Nazis verschleppt Gutstein erinnert sich daran noch gut. Bereits Wochen zuvor kam immer wieder ein Junge aus der Nachbarschaft und fragte nach Wertgegenständen, um Waffen im Untergrund zu kaufen. »Meine Mutter hat ihm jedes Stück Schmuck gegeben. Alles, was wir noch übrig hatten«, erinnert sie sich. Ihr Vater war damals schon von den Nazis verschleppt worden. Sie sah ihn nie wieder.
Als am 19. April 1943 die Kämpfe begannen, war Gutstein außerhalb des Ghettos. Beinahe täglich kroch sie mit einem Seil am Bauch durch die Kanalisation, um auf der anderen Seite nach Essen für ihre Familie zu suchen. Als sie zurückrannte, war ihr Haus nur noch Schutt und Asche. »Meine Mutter, Schwester und Bruder waren weg.« Vier Wochen später schlugen die deutschen Besatzer den Aufstand endgültig nieder.
Gutstein rettete sich in einen Wald in der Nähe. Dort wurde sie von Partisanen aufgenommen. Wenn diese zum Kämpfen gegen die Deutschen gingen, verkroch sie sich in einem mit Gestrüpp bedeckten Erdloch. »Sie sagten zu mir: »Komme erst raus, wenn du keine Schüsse mehr hörst.« Einmal dauerte das vier Tage.« Ohne Essen, ohne Wasser, ohne Tageslicht. Nach dem Krieg fand sie in Deutschland Mutter, Schwester und Bruder wieder. »Ich danke Gott dafür.«
Langes Schweigen 1948 kam sie nach Israel. In der neuen Heimat habe sie das Erlebte nur vergessen wollen, sagt Gutstein. Bis ins Alter von 80 Jahren habe sie nicht darüber gesprochen. »Weder mit meinem Mann, noch mit meinen drei Kindern. Ich wollte einfach nicht daran denken.« Was sie zum Umdenken brachte? Ihre große Schwester habe Alzheimer bekommen. »Manchmal frage ich mich, ob das besser so ist.« Sie habe dadurch aber realisiert, dass sie es sei, die die Geschichte erzählen müsse. Gegen das Vergessen.
Heute wird Frank-Walter Steinmeier als erster Bundespräsident zum 80. Jahrestag vor dem Denkmal in Warschau, das daran erinnert, eine Rede halten. Wie sie das findet? »Früher wäre es mir damit nicht gut gegangen«, gibt sie zu. »Aber im Alter ist es besser geworden.« Auch Entschädigung aus Deutschland habe sie lange abgelehnt. »Sie haben mir meine Jugend genommen, meine Bildung, meine Zukunft. Ich wollte ihr Geld nicht.«
Generell frage sie sich häufig, was mit ihrem Leben passiert wäre, wenn die Nazis nicht ihre Jugend zerstört hätten. Als der Krieg vorbei war, konnte sie weder schreiben noch lesen. »Ich war Analphabetin und wurde Krankenschwester, weil ich wusste, wie man hilft. Aber vielleicht hätte ich auch Professorin werden können.«