Gespäch

»Eine Leihgabe Gottes«

Mein Bauch gehört mir: Die Entscheidung über eine PID liegt im Einzelfall bei den Eltern. Foto: imago

Herr Nordmann, auf dem Bundesärztetag Anfang Juni in Kiel wurde ein Verbot der Sterbehilfe beschlossen. Ist das aus jüdisch-ethischer Sicht ein Erfolg?
Sterbehilfe ist ein weiter Begriff. Generell muss man zwischen Hilfe beim Sterben und Hilfe zum Sterben unterscheiden. Aus jüdischer Sicht ist die Hilfe beim Sterben grundsätzlich mit keinen großen Problemen behaftet – vielfach sogar geboten.

Beim Sterben, zum Sterben: Worin besteht der Unterschied?
Bei ersterem handelt es sich neben liebevoller Pflege vor allem um Schmerzlinderung ohne, dass damit das Leben willentlich verkürzt wird. Beim zweiten gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie die aktive oder passive Sterbehilfe oder Beihilfe zum Suizid. Und aus Sicht des Judentums steht klar fest: Aktive Sterbehilfe ist immer verboten, passive Sterbehilfe nur unter ganz bestimmen Umständen halachisch erlaubt, zum Beispiel wenn man bei einem schwer kranken terminalen Patienten darauf verzichtet, mit einer Behandlung im Falle einer Komplikation zu beginnen.

Also doch ein »Ja« zur Sterbehilfe?
Das würde ich so nicht unterschreiben. Die Halacha verbietet jede Form von aktiver Sterbehilfe. Passive Sterbehilfe ist nur gestattet unter Abwägung zwischen Leidensverlängerung und Lebensverkürzung. Befindet sich der Patient in der Endphase des Sterbeprozesses, dann kann man wie schon erwähnt eine allfällig notwendige neue Behandlung unterlassen. Aber wenn mit dieser bereits begonnen wurde, darf man sie nicht abbrechen. Die halachischen Gebote sind da eindeutig.

Und wenn der Patient vor seinem Tod verfügt hat, er möchte nicht weiter behandelt werden?
Dann lautet die zentrale Frage, ob der Wunsch des Patienten noch aktuell ist. Diese zu beantworten, ist schwierig. Aus jüdischer Sicht stellt sich ohnehin die Frage, ob man überhaupt halachisch das Recht hat, eine Patientenverfügung zu machen. Denn das Leben gilt ja als Leihgabe Gottes. Man selbst hat also über seinen Körper nur beschränkte Verfügungsgewalt. In letzter Zeit gibt es aber vermehrt auch aus Sicht der jüdischen Medizinethik Stimmen, die sagen, wenn eine solche Verfügung in einer bestimmten Weise verfasst wird, dann ist sie sogar erwünscht.

Wie sähe so eine Verfügung aus?
Der Text sollte grundsätzlich lebensbejahend abgefasst werden. Eine Verfügung sollte auch beinhalten, wie nach dem Tod mit dem Körper umgegangen werden soll. Nehmen wir zum Beispiel Autopsien, die in der Schweiz, wenn vorher keine andere Angabe gemacht wurde, in bestimmten Kantonen durchgeführt werden können. Vor diesem gesetzlichen Hintergrund sollten Juden auch über eine Patientenverfügung nachdenken und eine Person benennen, die über den Willen informiert ist. Aus meiner Sicht wäre es sehr wünschenswert, dass jeder Jude eine Verfügung macht, die halachische Vorgaben erfüllt.

Das heißt?
Orthodoxe Juden sollten ein solches Schriftstück mit ihrem Rabbiner besprechen und sich mit Ärzten beraten. Für säkulare Juden könnte es wichtig sein zu wissen, worauf generell eine jüdische Grundhaltung beruht. Und die lautet grundsätzlich: Ja zum Leben.

Sie arbeiten in der Schweiz, wo der Umgang mit Sterbehilfe liberaler geregelt ist als in Deutschland. Ist die Bundesrepublik in dieser Beziehung etwas rückschrittlich?
Ich kann mir vorstellen, dass das Verhältnis zur Sterbehilfe in Deutschland aus historischen Gründen belastet ist. Wobei ich der Meinung bin, dass die Beihilfe zum Suizid keine ärztliche Aufgabe ist. Insofern bin ich mit der Entscheidung des Bundesärztetages sehr zufrieden. Sie entspricht dem jüdischen Gesetz. Denn der Arzt hat nun mal in erster Linie den Auftrag, Leben zu erhalten, zu verlängern und Krankheiten zu bekämpfen.

Beim Stichwort Sterbehilfe kommt man hierzulande schnell auf die »Euthanasie« während der Nazi-Zeit zu sprechen. Halten Sie das für die Diskussion problematisch?
Ich denke, man muss in der Argumentation die sogenannte schiefe Ebene beachten.

Das heißt?
Wenn man es konsequent durchdenkt, geht es bei der Sterbehilfe in vielen Fällen darum, dass Menschen Entscheidungen über das Leben anderer treffen. Wenn Beihilfe zum Suizid erlaubt ist, dann wird die Abgrenzung zu aktiver Sterbehilfe immer schwieriger. Wie verhält es sich zum Beispiel mit Patienten, die ihre Meinung nicht mehr äußern oder den Akt der Selbsttötung nicht mehr alleine aus eigenen Kräften durchführen können? Wer entscheidet dann? Nur Gott darf entscheiden, wer leben darf und wer nicht. Wir Menschen haben den Auftrag, uns möglichst lange möglichst wertvoll in die Gesellschaft einzubringen

Der »Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen Euthanasie und Zwangssterilisation« hat kürzlich vor der Zulassung von Gentests bei Embryonen, also der Präimplantationsdiagnostik (PID), gewarnt. Diese stehe »in der Tradition zur Optimierung menschlicher Fortpflanzung«. Sehen Sie das ähnlich?
Aus jüdischer Sicht beginnt der Personenstatus erst im Laufe des Geburtsprozesses. Solange der Fötus im Mutterleib ist, hat er nicht die gleichen Rechte wie ein schon bestehendes Lebewesen. Die katholische Auffassung ist eine gänzlich andere: Das Leben beginnt mit der Empfängnis. In punkto PID gibt es viele halachische Autoritäten, die Untersuchungen über mögliche genetische Defekte bei Embryonen für zulässig halten.

Aber auch da wird von Menschen entschieden, welches Leben lebenswert ist und welches womöglich nicht.
In der jüdischen Medizinethik wird bei Embyonen ausserhalb des Mutterleibs von potenziellem menschlichen Leben gesprochen. Die Entscheidung liegt hier im Falle schwerwiegender genetischen Erkrankungen grundsätzlich bei den Eltern. Wenn zum Beispiel eine Mutter eine Diagnose nicht ertragen würde, vielleicht sogar an ihr zerbräche, dann folgte mit Blick auf das Judentum daraus: Es ist richtig, wenn sie den Fötus nicht austrägt. Aber jeder Fall ist anders gelagert. Deshalb rate ich, den Rat einer halachischen Autorität einzuholen. Auch als jüdischer Arzt würde ich es mir nicht zutrauen und zumuten, solche Fragen über Leben und Tod selbst zu entscheiden.

Mit dem Arzt und jüdischen Medizinethiker sprach Katrin Richter.

Yves Nordmann wurde 1974 in Basel geboren. Der Kinderarzt promovierte 1998 mit einer Arbeit über ethische Aspekte der Hirntodproblematik. 1999 erschien sein Buch Zwischen Leben und Tod – Aspekte der jüdischen Medizinethik.

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