Koran

»Eine heikle Angelegenheit«

Der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi über die Tradition muslimischer Judenfeindschaft

von Imanuel Marcus  07.01.2024 12:49 Uhr

»Muslime benötigen dringend eine kulturelle Erinnerungsarbeit«: Abdel-Hakim Ourghi Foto: picture alliance / Rolf Haid

Der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi über die Tradition muslimischer Judenfeindschaft

von Imanuel Marcus  07.01.2024 12:49 Uhr

Herr Ourghi, in Ihrem neuen Buch »Die Juden im Koran. Ein Zerrbild mit fatalen Folgen« beschäftigen Sie sich mit einem Phänomen: Judenhass unter Muslimen. Wie neu ist das Problem? Wo kommt es her?
»Judenhass« ist ein Begriff, mit dem schwer umzugehen ist. In der islamischen Theologie, sowohl im westlichen Kontext als auch in muslimischen Ländern, gilt bis heute die Herabsetzung und Geringschätzung der Juden unter muslimischer Herrschaft als Tabuthema. In der tragischen Begegnung der Juden mit den Muslimen im siebten Jahrhundert wurde der Grundstein für ein historisches Trauma gelegt, das im Laufe der Jahrhunderte nicht geheilt ist und in den gegenwärtigen politischen Konflikten immer wieder von Neuem aufbricht. Die historischen Traumata der Juden und die in der postkolonialen Ära sollen ein Tabuthema bleiben. Auch die systematische Eliminierung ihrer kulturellen Identität bleibt bis heute unbeachtet.

Hat der Koran etwas mit Antisemitismus zu tun? Oder wird das heilige Buch von radikalen Muslimen falsch interpretiert?
Ohne Berücksichtigung des historischen Kontextes des Koran beharren die radikalen Muslime auf seiner wortwörtlichen Auslegung. Der Koran skizziert ein regelrechtes Programm für die Verachtung der Juden, das auf der Auffassung gründet, dass die Juden auf ewig Feinde der Muslime bleiben werden. Er legalisiert den Status der Unterlegenheit der Juden und legitimiert somit ihre Unterwerfung, sogar Vertreibung und Tötung. Ab 624 werden die Juden – ähnlich wie die Christen – zu Ungläubigen erklärt. Sie hätten den Bund, den sie mit Gott geschlossen hatten, gebrochen und stünden in Sünde und Übertretung der göttlichen Gebote zusammen. Die Juden seien Irregehende, ihr Herz sei härter als Stein. Ebenfalls ist im Koran zu lesen, dass sie dem Zorn Gottes verfielen, weil sie nicht an seine Offenbarung glaubten und seine Propheten töteten. Der Koran unterstellt ihnen auch, dass sie das Wort Gottes entstellten und den Wortlaut der Schrift verdrehten. Sie nähmen Zins, obwohl es ihnen verboten sei, und brächten die Leute in betrügerischer Weise um ihr Vermögen.

»Möge Allah die verfluchten Juden erniedrigen und zerstören!«: Ist der Koran judenfeindlich?
Der zwischen 624 und 632 offenbarte politisch-juristische Koran entwirft ein Sündenregister, in dem nun heftige Kritik an der Tora und den Juden deutlich mehr Platz einnimmt. Extrem diffamierend wirkt das koranische Motiv, dass Gott die Juden wegen ihrer Sünden und Torheit in Tiere verwandelte. So heißt es, Gott habe die Juden zu »abscheulichen Affen« werden lassen, nachdem sie sich über seine Gebote wie – hier – das Sabbatgebot hinweggesetzt hätten. An anderer Stelle werden Juden und Christen warnend daran erinnert, dass Gott andere aus ihren Reihen verflucht habe und aus ihnen »Affen und Schweine und Götzendiener gemacht« habe.

Was sagt der Koran zu Freundschaften von Muslimen mit »Ungläubigen«, also zum Beispiel Christen und Juden?
In der ersten in Medina offenbarten Sure (2:120) teilt Gott den Muslimen mit, dass sie die anderen in ihrem Alltag meiden sollen. Die Muslime werden ausdrücklich davor gewarnt, sich mit ihnen anzufreunden. Wenn sich einer unter den Muslimen ihnen anschließe, gehöre er zu ihnen und nicht mehr zur Gemeinschaft der Muslime (Koran 5:51).

Inwieweit hat die im Koran beschriebene Vertreibung jüdischer Stämme aus Medina mit den antijüdischen Hetzparolen unter Muslimen in Berlin-Neukölln zu tun?
Muslime in der ganzen Welt, die gegen Juden und den Staat Israel demonstrieren, skandieren antijüdische und antisemitische Hetzparolen. Der bekannteste Satz darunter lautet: »Khaibar, Khaibar, oh ihr Juden! Muchammads Heer wird bald wiederkehren!« Auch die aus dem Iran importierten Raketen, mit denen die Terrororganisation Hisbollah im Sommer 2006 Israel angriff, trugen den Namen »Chaibar 1«. Der antisemitische Satz wird immer wieder bei Protesten von vielen Muslimen gegen den Staat Israel gesungen, wie etwa im Herbst 2017 in Berlin. Der Slogan ist eine Anspielung auf den Unterwerfungsfeldzug von Muchammads Heer im Frühjahr 628 gegen die damals von Juden besiedelte Oase, die etwa 150 Kilometer nördlich von Medina im heutigen Saudi-Arabien liegt.

Haben in der Geschichte Juden und Muslime wirklich tolerant zusammengelebt? Gab es eine solche Zeit in Andalusien oder andernorts?
Zwar kann niemand leugnen, dass es historische Phasen gab, in denen es den Juden unter muslimischer Herrschaft gut ging. Doch ist das keineswegs durchgehend der Fall gewesen. Der »glückliche Jude« in der islamischen Geschichte, in der die Juden und andere Minderheiten keine Verfolgungen, Pogrome und Vertreibungen erlebten, ist nichts anderes als ein Mythos. Die Entstehung dieses Mythos der toleranten Koexistenz zwischen Juden und Muslimen in »goldenen Zeitaltern« wie etwa in Andalusien ist eine Rückprojektion der Geschichtsschreibung der frühen Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert. Islamischer Antijudaismus und islamische Judengegnerschaft gibt es nicht erst seit der Staatsgründung Israels. Um das zu widerlegen, brauchen nur die Pogrome, Verfolgungen und Vertreibungen der Juden, beginnend mit Granada 1066, über Fes 1565, Benghazi 1785 und Algier 1815 bis zu Damaskus 1840 und Kairo 1844 genannt werden. Vor der Kolonisierung des Maghreb waren die Juden drastischen Restriktionen unterworfen, wie etwa dem Tragen grotesker Kleidung mit bestimmten Farben, das von Marokko bis Libyen allen Gemeindemitgliedern auferlegt wurde.

Juden mussten auch die sogenannte Kopfsteuer entrichten.
Durch die auferlegte Kopfsteuer (Koran 9:29) erkauften sich die Juden Schutz vor der Übermacht der Muslime. Hätten sie diesen Tribut nicht entrichtet, wäre es erlaubt gewesen, ihr Blut zu vergießen und ihr Hab und Gut als Beute unter den Muslimen zu verteilen. In Algerien und in Marokko gab es vor der Kolonialzeit Rituale, bei denen die Juden bei der Entrichtung der Unterwerfungskopfsteuer durch Anwendung von körperlicher Gewalt – Ohrfeige, Stockschlag beziehungsweise Schlag in den Nacken – öffentlich gedemütigt wurden.

Gibt es Ihrer Ansicht nach Lösungsansätze, mittelalterliche Ressentiments gegen Andersgläubige unter Muslimen zu überwinden?
Zuerst muss gesagt werden, dass der heutige islamische Antisemitismus eine radikale Form des klassischen Antijudaismus ist. Muslime benötigen dringend eine kulturelle Erinnerungsarbeit. Solch eine Erinnerung kann zwei spannungsvolle Formen haben. Die erste ist die Vergangenheitsbewahrung, denn vom Umgang der Muslime mit den Juden seit 624 darf nichts vergessen oder verdrängt werden. Die zweite Form ist die Vergangenheitsbewältigung, die auf einer kritisch-reflektierenden Aufarbeitung der Geschichte des Islam beruht.

Sie selbst kamen im Alter von 23 Jahren nach Deutschland und haben gesagt, Sie seien ein »indoktrinierter Antisemit« gewesen. Wie ist das zu verstehen?
Bis heute wird im muslimischen Kontext vermittelt, dass die Juden die ewigen Feinde der Muslime seien und deshalb der Staat Israel bekämpft werden soll. Die seit Jahrhunderten andauernde Sinnkrise des Islam mit ihren politisch-wirtschaftlichen Dimensionen benötigt unbedingt Israel, Juden überall in der Welt und den Westen als Feinde, damit die ewige Opferrolle der Muslime gepflegt werden kann. Die Sozialisation in unseren Herkunftsländern will bis heute die Muslime in den Zustand andauernden Hasses gegen die Juden versetzen.

Wie haben Sie sich davon gelöst?
Es dauerte Jahre, bis ich lernte, dass die Juden nicht die Feinde der Muslime und nicht anders als andere Menschen sind. Dies geschah nicht in Algerien oder in anderen muslimischen Ländern, sondern erst in Deutschland. Ich habe mich Ende der 90er-Jahre mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt, bei dem sechs Millionen Juden durch einen industriellen Holocaust vernichtet wurden. Ich habe viele Juden kennengelernt und entdeckt, dass sie nicht anders als wir sind, dass sie auch in Frieden leben möchten. Und somit wurde ich kritisch gegenüber meiner kulturellen Sozialisation. Ich war geschockt von der Tragödie der algerischen Juden. Im Juli 1962 war Algerien zu einem Land ohne jüdische Bürger geworden. Ihre Synagogen wurden zu Moscheen oder zu Kulturvereinen – eine systematische Auslöschung ihres Daseins, worüber niemand spricht.

Was müsste konkret passieren, damit die antijüdische Polemik in Neukölln, Gaza, Algier und andernorts verschwindet?
Über die verbreiteten antisemitischen Neigungen unter vielen muslimischen Jugendlichen in Schulen, wie etwa hier in Freiburg, wird geschwiegen. Wir Lehrer wissen nicht einmal, wie man damit umgeht. Der islamische Antisemitismus muss auch in den Schulen und vor allem im islamischen Unterricht thematisiert werden. Wir brauchen Unterrichtsmaterial zur Schoa, und im Rahmen dessen müssen jüdische und muslimische Schülerinnen und Schüler gemeinsam Konzentrationslager wie etwa Auschwitz besuchen. Der Frieden zwischen Juden und Muslimen beginnt durch die dialogische Begegnung in Synagogen, Moscheen und vor allem in Israel. Im November 2022 war ich zum ersten Mal mit muslimischen und evangelischen Studierenden in Israel. Die Reise war ein unerwartet großer Erfolg. Der interreligiöse Dialog ist kein Date, um harmonisch miteinander zu kuscheln, sondern ein Weg, auch die grundlegenden Konflikte zu ergründen und anzusprechen.

Gibt es empirische Daten zum Ausmaß der antijüdischen Aktivitäten unter Muslimen in Deutschland?
Zuerst möchte ich darauf hinweisen, dass wir dringend im westlichen Kontext eine neue öffentliche Debatte benötigen. Muslimische Vereine, politische Bildungseinrichtungen und Parlamentsfraktionen müssen sich damit beschäftigen, um die Legende vom barmherzigen Islam zu entkräften. Der islamische Antisemitismus und seine Legitimierung in den kanonischen Quellen des Islam muss endlich debattiert werden. Im Jahr 2021 wurden 2738 antisemitische Vorfälle in Deutschland registriert. Laut einer vom American Jewish Committee in Auftrag gegebenen Studie kommen Experten zu dem Ergebnis: Antisemitische Ressentiments sind unter Musliminnen und Muslimen deutlicher verbreitetet als im Durchschnitt, vor allem unter dem organisierten Islam in den Dachverbänden und unter Menschen, die regelmäßig Moscheen besuchen. Wir erleben täglich zwei bis drei antisemitische Vorfälle. Wir wissen anhand von Studien, dass 80 Prozent der antisemitischen Vorfälle nicht gemeldet werden – eine besorgniserregende Dunkelziffer.

Welche Rolle spielt der Nahostkonflikt im Zusammenhang mit antisemitischen Einstellungen unter Muslimen?
Wir müssen über die lange Tradition der Judenfeindschaft des Islam reden. Sie reicht viel weiter zurück als zur Staatsgründung Israels 1948 oder zum Beginn der zionistischen Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts. Für die Perpetuierung des Antisemitismus wirkte die Entstehung des Staates Israel wie ein Brandbeschleuniger. Jedoch darf die Rolle des tradierten und praktizierten Antijudaismus unter muslimischer Herrschaft bei der Vertreibung und Enteignung der Juden in arabisch-muslimischen Ländern nicht unterschätzt werden.

Wird das Problem in Deutschland – Stichwort: demografische Entwicklung – in Zukunft eher größer oder kleiner?
Die Zahl der arabischen Muslime nimmt seit 2015 stark zu. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der arabische Islam in Deutschland den türkischen Islam verdrängt. Daher benötigen wir dringend realitätsnahe und zukunftsorientierte Konzepte für die Bekämpfung des muslimischen Antisemitismus.

Wie sieht es mit der Rolle der Imame aus? Sind sie Teil des Problems?
Die Geschichte der Moscheen im Westen, in denen Import- und Selfmade-Imame tätig sind, zeigt, dass sie einen erheblichen Anteil an der gescheiterten Integration vieler Muslime haben. Es ist – mit Blick auf diese Moscheen – kein Wunder, dass die hiesigen Muslime nationalistisch und konservativ sind. Selbstverständlich darf man nicht alle Moscheen und Koranschulen über einen Kamm scheren. Die meisten Imame jedoch predigen einen konservativen Islam. Die radikaleren unter ihnen und ihre Anhänger haben lediglich die religiösen Inhalte verschärft. Die verbindende theologische Basis aber ist bei den meisten die gleiche.

Die Publizisten Ahmad Mansour und Hamed Abdel-Samad stehen unter Polizeischutz. Brauchen Sie diesen nun auch? Gibt es Anfeindungen?
Wenn ich etwas veröffentliche, gibt es immer wieder Anfeindungen. Ich stehe jedoch nicht unter Polizeischutz, und ich hoffe, dass es so bleibt.

Welche Reaktionen erhalten Sie von anderen Muslimen – und von jüdischer Seite?
Von Ersteren bis dato gar keine. Allerdings freue ich mich immer auf eine friedfertige und konstruktive Debatte, besonders über die Legende des barmherzigen Islam. Das Thema »Die Juden im Koran« ist eine heikle Angelegenheit, daher schweigt man lieber.

Mit dem Freiburger Islamwissenschaftler und Religionspädagogen sprachen Philipp Peyman Engel und Imanuel Marcus.

Abdel-Hakim Ourghi: »Die Juden im Koran. Ein Zerrbild mit fatalen Folgen«. Claudius, München 2023, 261 S., 26 €

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