Jom Haschoa

»Eine Frage der Haltung«

Am 23. Mai dieses Jahres jährt sich die Verkündung des Grundgesetzes zum 75. Mal. Wir blicken damit auch zurück auf 75 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Bedenkt man die damaligen Umstände, war es alles andere als selbstverständlich, dass das Grundgesetz sich über die Jahrzehnte zum Fundament unseres gemeinsamen Werteverständnisses entwickeln würde – es gibt dafür den schönen Begriff »Verfassungspatriotismus«.

Heute stehen wir vor gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen wie lange nicht mehr. Wir sehen zunehmende Spannungen im öffentlichen Diskurs. Wir sehen Akteure, die eine Spaltung der Gesellschaft in unsicheren Zeiten ganz bewusst forcieren, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Und wir sehen schließlich ein Erstarken radikaler, extremistischer Bewegungen nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa.

Freiheitlich-demokratische Grundordnung

Was alle bei aller Unterschiedlichkeit gemeinsam haben: Sie stellen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung infrage. Nicht nur heimlich im stillen Kämmerlein, sondern ganz offen: mit Vokabeln wie »Umvolkung« und »Remigration«, aber auch, indem Israel sein Existenzrecht abgesprochen wird. Jüdinnen und Juden trauen sich vielerorts nicht mehr auf die Straße, wenn sie sich als Juden zu erkennen geben. Deutschland hat ein grundlegendes Problem, das immer noch nicht ernst genug genommen wird.

Adolf Eichmann tauchte nach der Schoa als Angestellter bei Mercedes-Benz unter.

Jüdinnen und Juden in aller Welt begehen heute den Jom Haschoa. Sie gedenken all der Menschen, die Opfer des Holocaust wurden. Man kann kaum in Worte fassen, wie wichtig ein solcher Tag als Beitrag zur Erinnerungskultur gerade heute und gerade für uns Deutsche ist. Erinnerung und die Bekämpfung von Antisemitismus sind aber nicht nur eine Frage des Geschichtsunterrichts, sondern vor allem eine Frage des Handelns und unserer Haltung – heute und morgen.

Es ist ein kontinuierlicher Prozess, dem wir uns als Gesellschaft immer wieder stellen müssen. Es ist naiv zu glauben, dass sich Verbrechen wie die der Natio­nalsozialisten nicht wiederholen können – nur weil sich die Erscheinungsformen des Antisemitismus geändert haben, und nur weil die Täter von heute und die potenziellen Täter von morgen eine andere Sprache sprechen und andere Codes nutzen als die Täter von gestern.

Ich schreibe diesen Beitrag auch als Vertreter von Mercedes-Benz. Wir sind eines der größten Unternehmen in Deutschland – und schon alleine deshalb ist es unsere Pflicht, aktiv dazu beizutragen, die Erinnerungskultur zu fördern und zu leben. So zum Beispiel mit dem Fall Adolf Eichmann.

Der Fall Adolf Eichmann

Der SS-Mann, Architekt der millionenfachen Ermordung von Jüdinnen und Juden, lebte nach dem Krieg unter dem Namen Ricardo Klement ein unauffälliges Leben als Angestellter bei Mercedes-Benz in Argentinien. Es brauchte den beharrlichen Gerechtigkeitssinn des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer und den Mut und Einfallsreichtum des Mossad, um ihn 1960 in seinem Versteck aufzuspüren und ihn 1961 in Jerusalem vor Gericht zu stellen.

In den frühen Jahren der Bundesrepublik redete man sich gern ein, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust einen radikalen Bruch in der deutschen Geschichte gegeben habe im Sinne einer »Stunde null« im Jahr 1945, in der alles neu begann. Der Fall Adolf Eichmann zeigt, dass das nicht so war.

Als die damalige Daimler-Benz AG im Jahr 1986 ihre eigene Vergangenheit im Natio­nalsozialismus von einer unabhängigen Expertenkommission wissenschaftlich untersuchen und aufarbeiten ließ, war sie eines der ersten deutschen Unternehmen, die einen solchen Schritt gingen. Und das mehr als 40 Jahre nach Kriegsende. Aus der Unternehmensgeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus erwächst für Mercedes-Benz die Verantwortung, das Erinnern lebendig zu halten.

Es gibt Akteure, die eine Spaltung der Gesellschaft in unsicheren Zeiten ganz bewusst forcieren.

1999 war die damalige DaimlerChrysler AG unter den Unternehmen, die die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« initiierten. Dabei ging es zunächst um Entschädigungszahlungen für ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, bis heute aber auch um zahlreiche Erinnerungsprojekte.

Seit vielen Jahren arbeiten wir auch mit dem Freundeskreis Yad Vashem in Deutschland zusammen: 2021 haben wir in enger Zusammenarbeit und mit vier weiteren deutschen Unternehmen in einer gemeinsamen Erklärung unser Engagement gegen Antisemitismus und Rassismus unterstrichen und die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) übernommen.

Teil des Bündnisses für Demokratie und gegen Extremismus

Genauso ist Mercedes-Benz Teil des Bündnisses für Demokratie und gegen Extremismus, das im Februar 2024 gemeinsam vom Arbeitgeberverband Südwestmetall und der IG Metall Baden-Württemberg im Beisein von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gegründet wurde. Und in diesem Sommer blicke ich hoffnungsvoll auf die Eröffnung des Moshal Shoah Legacy Campus in Jerusalem, ein Ort, an dem Erinnerungskultur weiter gepflegt werden soll. Als Vertreter von Mercedes-Benz habe ich das Privileg, bei der Eröffnung dabei sein zu dürfen.

Ich habe eingangs das Grundgesetz als Fundament unseres Zusammenlebens gewürdigt. Eine der wichtigsten Konsequenzen, die Deutschland aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust gezogen hat, ist das Grundgesetz selbst. Es konstituiert die Unantastbarkeit der Würde des Menschen als oberstes Prinzip und garantiert die Grundrechte aller Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von ihrer Herkunft, Religion, Geschlecht oder politischen Überzeugung als unmittelbar geltendes Recht.

Das Grundgesetz ist eine der wichtigsten Lehren, die Deutschland aus dem Holocaust gezogen hat.

Es bildet die Grundlage für unsere Demokratie und unsere Soziale Marktwirtschaft. Es hat sich als stabil und anpassungsfähig erwiesen, um den Herausforderungen und Veränderungen der Zeit zu begegnen. Es hat die Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990 ermöglicht und die Integration in die Europäische Union erleichtert. Es ist die Grundlage unserer lebendigen und pluralistischen Bürgergesellschaft, die sich für die Verteidigung der Grundrechte und die Bewältigung gesellschaftlicher Probleme einsetzt. Das Grundgesetz ist mehr als nur ein juristisches Dokument. Es ist gesellschaftlicher Konsens und moralischer Kompass, der uns Orientierung und Inspiration gibt.

Wenn wir heute der Opfer der Schoa gedenken, erinnern wir auch daran, dass keiner dieser Werte selbstverständlich ist. Dass jüdisches Leben in Deutschland keine Selbstverständlichkeit ist. Und dass ein Deutschland, in dem Juden in Angst leben müssen, nicht das Deutschland des Grundgesetzes ist.

Auch 75 Jahre nach Verkündung des Grundgesetzes liegt es an uns Demokraten, die Worte darin mit Leben zu füllen – und die Ideen, die in ihm stecken, gegen die Angriffe jener zu verteidigen, die eine andere oder gar keine Republik wollen. Mercedes-Benz ist mit Herz und Hand Teil dieser Gesellschaft, die auf dem Grundgesetz aufbaut. Darum positionieren wir uns klar gegen Rassismus und Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit, Hass, Antisemitismus und jede Art von Extremismus und Fanatismus.

Auch daran erinnern wir uns am Jom Haschoa. Aber wir vergessen das auch an keinem anderen Tag.

Der Autor ist Leiter der Abteilung External Affairs bei Mercedes-Benz und war langjähriger Bundestagsabgeordneter (CDU) sowie Staatsminister im Kanzleramt.

Sachsen-Anhalt

Polizei verhindert möglichen Anschlag auf Synagoge Halle

Der Tatverdächtige soll bereits eine Waffe besorgt und im Internet mit seinem Plan geprahlt haben

 13.03.2025 Aktualisiert

USA

Wer Jude ist, bestimmt nun er

Donald Trump wird immer mehr wie der berühmt-berüchtigte Wiener Bürgermeister Karl Lueger

von Michael Thaidigsmann  13.03.2025

Israel

Bernard-Henri Lévy sagt aus Protest Teilnahme an Konferenz in Israel ab

Der Schritt des französischen Philosophen erfolgte aus Protest gegen die Einladung der zwei rechten französischen Politiker Jordan Bardella und Marion Maréchal

von Michael Thaidigsmann  13.03.2025

Bremen

»Die israelische Demokratie ist eine sehr viel vitalere als die deutsche«

Im Interview mit dem »Weser Kurier« spricht Michel Friedman über die Aufarbeitung der deutschen Geschichte, die AfD sowie die israelische Gesellschaft

 13.03.2025

Berlin

Joschka Fischer nennt mögliche Verhaftung Netanjahus »absurd«

Der frühere Außenminister stimmt CDU-Chef Friedrich Merz zu: Der israelische Ministerpräsident müsse Deutschland unbehelligt besuchen können

von Imanuel Marcus  13.03.2025

USA

Das Ende des Westens?

Donald Trump ist offenbar bereit, die Ukraine fallen zu lassen. Europa bleibt nun keine andere Wahl, als sich neu zu erfinden. Das birgt auch große Chancen

von Rabbiner Pinchas Goldschmidt  13.03.2025

Nahost

Arabische Länder legen den USA Gaza-Plan vor

Die Äußerungen von US-Präsident Trump für mögliche Pläne zum Gazastreifen sorgten für Aufregung. Arabische Länder machen jetzt einen Gegenvorschlag

 13.03.2025

Diplomatie

Berichte: Trump-Brief im Iran angekommen

Ein von US-Präsident Donald Trump verfasster Brief wurde laut Medienberichten persönlich durch einen Vermittler in Teheran überreicht

 12.03.2025

Hessen

Bildungsstätte Anne Frank wehrt sich gegen AfD-Kritik

AfD fordert nun die Aberkennung der Gemeinnützigkeit

 12.03.2025