Eigentlich war man schon längst fertig. Im Bildungsausschuss des Deutschen Bundestags haben sich die Vertreter von SPD, FDP, Grünen und Union bereits vor Wochen auf einen gemeinsamen Antrag zu Antisemitismus an Schulen und Universitäten geeinigt.
Die Verhandlungen liefen parallel zu denen über eine andere, deutlich allgemeiner gehaltene interfraktionelle Resolution zum selben Thema: »Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken«, heißt das Papier, das Anfang November nach einer teils erbittert geführten öffentlichen Auseinandersetzung mit breiter Mehrheit im Parlament verabschiedet wurde.
Nur einen Tag zuvor war die Ampel-Koalition frühzeitig geplatzt. Für die Abstimmung kam der Bundestag noch einmal zusammen, doch seitdem herrscht meist Stille im Hohen Haus: Bis zu den Neuwahlen im Februar soll es nur noch drei Sitzungswochen geben. Einen Termin für die Debatte über die zweite Antisemitismusresolution gibt es bisher nicht. Aus allen vier Fraktionen heißt es zwar unisono, man stehe nach wie vor zum Antrag und wolle ihn noch in dieser Legislaturperiode verabschieden. Doch die Zeit wird knapp – nicht zuletzt, weil die Union erst nach der Vertrauensfrage von Kanzler Olaf Scholz am 16. Dezember zu einer Zusammenarbeit im Bundestag bereit ist.
Gegenstand einer Kontroverse
Währenddessen wächst die Kritik am Antrag. Flog der bisher gleichsam unter dem Radar, ist er nun Gegenstand einer Kontroverse geworden.
Der Antrag mit dem Titel »Antisemitismus und Israelfeindlichkeit an Schulen und Hochschulen entschlossen entgegentreten sowie den freien Diskursraum sichern« hat acht Seiten. Er ist doppelt so umfangreich wie die Resolution vom November und soll diese durch konkrete Forderungen ergänzen. Dazu zählen etwa die nach einer Stärkung der Erforschung sowie Vermittlung von Antisemitismus und jüdischem Leben, einer Intensivierung des deutsch-israelischen Austausches, der klaren Ablehnung der gegen Israel gerichteten Boykottbewegung BDS sowie die Exmatrikulation als Ultima Ratio für besonders schwere Fälle antisemitischen Verhaltens.
Die schärfste Kritik entzündet sich an ähnlichen Punkten wie schon in der Diskussion um die erste Resolution. Erneut wird eine Einschränkung von Wissenschafts- und Meinungsfreiheit befürchtet. Erneut wird bemängelt, dass sich die Parlamentarier auf eine bestimmte Definition von Antisemitismus festlegen wollen: diejenige der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), zu der sich zahlreiche Staaten bekennen, darunter Deutschland.
In einem offenen Brief aus der Wissenschaft wird diese als »erwiesenermaßen vage wie missbrauchsanfällig« bezeichnet. Die Unterzeichner bemängeln, dass etwa die alternative »Jerusalemer Erklärung« in dem Antrag nicht genannt wird. Dass auch diese Definition kritisiert wird – etwa dafür, dass sie BDS implizit von Antisemitismus freispricht –, erwähnen die Unterzeichner des offenen Briefes nicht.
Aus den Fraktionen heißt es unisono, man stehe noch zu dem Vorhaben.
Einer der Initiatoren der »Jerusalemer Erklärung«, der Berliner Antisemitismusforscher Uffa Jensen, kritisiert in einem Gastbeitrag im »Tagesspiegel« ebenfalls die IHRA-Definition und behauptet, durch die Festlegung auf diese drohten »nicht zuletzt drastische Folgen für Jugendliche und junge Erwachsene an Schulen und Universitäten mit möglichen Langzeiteffekten in deren Biografien«. Auch in dem offenen Brief ist von einer Inkaufnahme der »Kriminalisierung von arabischen und palästinensischen Schüler:innen und Student:innen« die Rede.
Freiheit von Forschung und Lehre
Eine plausible Begründung für diese Sorgen legen die Kritiker nicht vor. Auffällig ist, dass sie selten konkret auf den Antragstext eingehen, der öffentlich zugänglich ist. Was dem Antisemitismus-Antrag an einschneidenden Konsequenzen – allen voran ein massiver Eingriff und die Freiheit von Forschung und Lehre – zugeschrieben wird, beruht meist auf Spekulationen.
Diesen leistet der Antragstext jedoch teilweise Vorschub. So heißt es darin, dass zum einen »Fördermittel des Bundes ausschließlich nach dem Maßstab der wissenschaftlichen Exzellenz vergeben« werden und zum anderen »wissenschaftliche Exzellenz und Antisemitismus einander ausschließen«. So wird vermieden, die Überprüfung von Fördermittelanträgen auf außerwissenschaftliche Faktoren zu fordern, aber gleichzeitig doch deutlich zu machen: Was gemäß der IHRA-Definition antisemitisch ist, soll nicht gefördert werden.
Doch während in dem offenen Brief noch treffend darauf hingewiesen wird, dass Fälle staatlicher Förderung von antisemitischen Forschungsvorhaben bisher unbekannt sind, stellt für Jensen diese Passage ein Einfallstor für die künftige Gewissensprüfung von Forschern dar. »Man kann sogar vermuten, dass die Einstellungen aller Antragssteller*innen zur israelischen Politik überprüft werden müssen«, schreibt er.
»Das ist Schmarrn«, sagt dagegen die bayerische Bundestagsabgeordnete Marlene Schönberger im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. Die Grünen-Politikerin hat für ihre Fraktion den Antrag im Bildungsausschuss mitverhandelt. Schönberger, die gerade selbst zum Thema Antisemitismus promoviert, sagt: »Dass nach der IHRA keine Kritik an der israelischen Politik möglich ist, ist Unsinn.« Ohnehin würde mit dem Bekenntnis zu dieser Definition nur der Status quo unterstrichen, die Förderunwürdigkeit von antisemitischen Vorhaben sei ebenfalls selbstverständlicher Konsens. Die Freiheit der Wissenschaft bleibe unberührt.
Neuwahlen im Februar
Unnötig sei der Antrag dennoch nicht, glaubt Schönberger. »Meine Gespräche mit von Antisemitismus Betroffenen zeigen, dass etwas getan werden muss.« Unterstützt wird der Antrag unter anderem von der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) und dem Netzwerk Jüdischer Hochschullehrender. Beide Organisationen hoffen auf ein klares Zeichen des Bundestags gegen Antisemitismus an Schulen und Universitäten. Bleibt die Frage, ob dieses noch vor den Neuwahlen im Februar kommen wird.
Der Ball liegt nun im Feld der Union. Stellvertretend für ihre Fraktion erklärte die Abgeordnete Daniela Ludwig, im Anschluss an die Vertrauensfrage werde »über die Terminierung der noch einzubringenden Initiativen entschieden«. Viel Auswahl im Terminkalender des Bundestages gibt es dafür jedoch nicht mehr.