Mein Großonkel Nathan war ein seltsamer Mann. Er überlebte den Krieg als Mönch getarnt und versteckt in Friesland. Änderte, kaum seinem Versteck ent- kommen, seinen Namen in Nick und kaufte sich ein Ticket nach Kanada. Aber er trat die Reise nicht an. Er, Chemieingenieur von Beruf, gründete eine kleine Firma, die Lebensmittelzusätze produzierte, heiratete, wurde Vater und führte offenbar ein normales Leben in den Niederlanden.
Das Ticket jedoch, das damals wohl ein kleines Vermögen gekostet haben musste, hatte er immer in der Innentasche seines Mantels, und er verlängerte es fortwährend. Onkel Nathan konnte gehen, wann er wollte. Die Taufe mag vielleicht für Heinrich Heine ein Einlassbillett in die Gesellschaft gewesen sein. Für meinen Onkel war das Ticket nach Kanada die offene Tür, eine Möglichkeit, zu flüchten, wann immer es ihm nötig erscheinen sollte.
Onkel Nathan glich dem Juden, den der »Stürmer« so gerne verspottete und herabwürdigte: klein, kräftig gebaut mit einer hervorstehenden Nase und hageren Gesichtszügen. Warum blieb er, hielt es für nötig, seinen Namen zu ändern und ein Ticket nach Kanada mit sich herumzutragen? Warum ist er nicht einfach auf und davon: Sachen packen, ab ins Flugzeug und ein neues Leben beginnen? Anstatt in einem Land zu bleiben, vor dem er offensichtlich Angst hatte und das er möglicherweise sogar hasste.
taufen? Ich habe ihn nie gefragt. Vielleicht, weil ich mich an den Gedanken des Versteckens gewöhnt hatte. Meine Eltern hatten meine beiden Schwestern und mich als Babys taufen lassen. Und sie wussten, warum. Sollten »die« uns jemals wieder verfolgen, würde die Taufe der Unterschied zwischen Leben und Tod sein. Ich erinnere mich, dass ich meiner Mutter gegenüber den Namen Edith Stein erwähnte. Die niederländische Jüdin, die Nonne wurde und aus ihrem Konvent in ein Konzentrationslager deportiert wurde. Ihr sollte klargemacht werden, dass sie in den Augen der anderen in allererster Linie Jüdin sei. Doch meine Mutter ließ sich dadurch von mir nicht beeindrucken. »Du kannst dich gern darüber lustig machen«, sagte sie, »aber ich hoffe, du musst für unsere Entscheidung niemals dankbar sein.«
Sie selbst hatte während des Krieges untertauchen müssen. Rotterdam, ihre Geburtsstadt, wurde zerbombt. Ihr Vater war, so sagt man, zu dieser Zeit in Norwegen. Und als meine Großmutter deportiert wurde – zuerst nach Westerbork, dann nach Sobibor, wo sie ermordet wurde – schmuggelte der Widerstand sie und ihre Schwester in eine ostniederländische Stadt. Dort versteckt, überlebten die kleinen Mädchen.
Niederländische Juden sind nach dem Krieg nie wirklich aus ihrem Versteck herausgekommen. Der erkennbare Jude – was auch immer das sein mag –, der sich zu seinem Judentum bekennt, ist ein relativ neues Phänomen. Ich denke, dass man bis in die 80er-Jahre hinein annahm, Juden seien nicht niederländischer als die Niederländer. Aber sie hatten den Gedanken verinnerlicht, unsichtbare Juden zu sein. Und das schon vor dem Zweiten Weltkrieg. Niederländische Juden verbannten Knoblauch aus ihrer Küche.
Warnsignal Sie brachten ein Gebet für den König im Schabbatgottesdienst unter. Sie trugen friesische Kleidung und gaben ihren Kindern friesische Namen. Sie hatten sogar ein Warnsignal für andere Juden, die zu laut und zu auffällig waren: »Green risjes maken«, was so viel bedeutet wie »Mach bloß nichts, um die Aufmerksamkeit oder die Wut der Niederländer auf dich zu ziehen.«
Was lässt sich also zu Herrn Bolkestein sagen? Der einstige EU-Kommissar glaubt, es sei für bekennende Juden besser, aufgrund des islamistischen Antisemitismus das Land zu verlassen. Für einen überzeugten Liberalen scheint er überraschend pessimistisch zu sein. Ist es wahr, dass offen jüdisch lebende Menschen keine Zukunft in den Niederlanden haben? Mein Freund, der Schriftsteller Leon de Winter, teilt Bolkesteins Pessimismus.
Und einige meiner anderen jüdischen Freunde tun das auch. »Soll ich meine Kinder in einem Land aufziehen, in dem ihre Schule von der Polizei bewacht werden muss, in dem die Synagoge von einem Zaun umgeben und Wachposten davor aufgestellt sind?«, fragte eine Freundin. Sie und die anderen Pessimisten – sie haben recht.
Ich erinnere mich noch gut an den türkischen Monteur, der meine Heizung repariert hat. Bei einer Tasse Kaffee fragte er mich zögernd, ob ich ihm erklären könne, warum sein Imam kürzlich erklärt habe, dass Juden gefährlich seien. Dass sie eine versteckte Macht wären, die Regierungen manipulierten und gegen den Islam arbeiteten. Und ich erinnere mich auch ganz deutlich an eine Anti-Israel-Demonstration im Zentrum von Rotterdam.
Ich geriet irrtümlich da rein und war geschockt, als ich die antisemitischen Fahnen und Banner sah. Ich fühlte mich bedroht, war wütend. Und ich dachte: Was wäre, wenn mich hier jemand als niederländisch-jüdischen Autor erkennen würde? Es mag Angst gewesen sein, die mich hat fühlen lassen, dass die Folgen übel gewesen wären. Aber ich hätte diese Art Angst keinesfalls in meinem eigenen Land spüren sollen.
Muslime Und dann gibt es noch Geert Wilders, den Anführer der neuen Rechten. Ein treuer Unterstützer Israels, ein Mann, dessen Politik sich nur auf eines konzentriert: die Muslime loszuwerden. Sollte seine Politik mich weniger ängstigen? Wenn ja, warum fühle ich mich dennoch durch sein ständiges Beharren auf der »Andersartigkeit« der Muslime bedroht? Warum fühle ich, dass sein »Sie gehören nicht hierher. Sie teilen nicht unsere Kultur« auch für mich gilt?
Ich habe Zweifel am politischen Islam. Ich verachte – ja, dieses Wort mit all seiner Stärke – die Art, wie die Niederländer Israel und alles Jüdische bis in die 80er-Jahre hinein liebten und jetzt denken, Israel sei von Grund auf böse. Ich habe Menschen mehr als einmal sagen hören, dass Israel für die Palästinenser das ist, was die Nazis für die Juden waren. Ich habe noch nie jemanden so etwas über Nordirland sagen hören. Ich höre so etwas auch nicht über die Gräueltaten in Syrien. Und kaum einer spricht über die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in Guantanamo Bay.
Krieg Vor zwei Jahren las ich in Den Haag aus einem Roman. Darin ging es um einen Juden, der versuchte, die Geschichte seiner Mutter, die nach Israel ausgewandert war und dort starb, zusammenzusetzen. Das Publikum war bewegt, einige wischten sich Tränen aus den Augen. Und dann, aus heiterem Himmel, fragte eine Frau, warum Juden immer wieder über ihr Unglück reden müssen und sich immer auf »den Krieg« konzentrierten. Ich hatte zwar den Krieg gar nicht erwähnt, aber sie war nicht zu beruhigen. Warum immer die Juden, fragte sie. Glaubte ich nicht, dass normale Menschen auch Probleme hätten?
Ein anderer sagte, die Juden hätten das Recht verloren, so verdammt frömmelnd zu sein. Schauen sie, was sie den Palästinensern angetan haben. Denken sie nicht, wir haben während des Krieges auch gelitten, fragte schließlich ein weiterer Zuhörer. Da schritt der Veranstalter ein und beendete die Lesung.
Was zum Teufel war passiert? Woher kam bei diesem Mann, der sich später entschuldigte, all die Wut? Und: Warum war ich still geblieben? Vermutlich, weil ich erkannte, dass auch ich ein Jude bin, der sich versteckt. Und dass Onkel Nathans Ticket nach Kanada wohl doch keine so dumme Idee war.
Marcel Möring
wurde 1957 in Enschede in eine jüdische Familie geboren später getauft. Er gilt als einer der bedeutendsten Literaten der Niederlande. Für seinen ersten Roman Mendel erhielt er 1991 den Geertjan-Lubberhuizen-Preis. Sein Buch Der nächtige Ort (Luchterhand Verlag) wurde 2007 zum besten niederländischen Roman des Jahres gekürt. Marcel Möring lebt mit seiner Familie in Rotterdam.