Als vor 60 Jahren das Luxemburger Abkommen zwischen der Bundesrepublik, Israel und der Jewish Claims Conference abgeschlossen wurde, rechnete kaum jemand damit, dass dies eher ein Anfang als ein Ende sein würde. Im Vordergrund der öffentlichen Wahrnehmung standen die vereinbarten Leistungen im Wert von 3,45 Milliarden D-Mark zugunsten der jüdischen NS-Opfer.
Weniger auffällig, aber langfristig äußerst folgenreich war jedoch, dass dort nicht nur weitere Verbesserungen des Bundesentschädigungsgesetzes, sondern regelmäßige Konsultationen mit der Jewish Claims Conference vereinbart wurden. Daraus folgte eine jahrzehntelange enge Zusammenarbeit zwischen diesem in New York beheimateten Zusammenschluss internationaler jüdischer Organisationen und dem Bonner Bundesfinanzministerium. Über wechselnde politische Konstellationen hinweg führte dieses politische Arrangement immer wieder zu neuen Entschädigungsleistungen für jüdische NS-Opfer.
entschädigungsmaterie Nach mehrfachen Novellierungen des Bundesentschädigungsgesetzes endete dieser Prozess vorläufig 1965: In der Bundesrepublik wurde damals das »Ende der Nachkriegszeit« ausgerufen. Passend dazu verabschiedete der Deutsche Bundestag im selben Jahr das Bundesentschädigungs-Schlussgesetz, das als legislativer Sarkophag über der glühenden Entschädigungsmaterie konzipiert war. Dieser Deckel, der relativ großzügig bemessene Entschädigungsansprüche weitgehend auf NS-Opfer mit deutschem Hintergrund beschränkte, konnte bis heute nicht abgesprengt werden.
Doch konnte die Jewish Claims Conference bis zum Ende der alten Bundesrepublik immerhin noch einige zusätzliche Leistungen zugunsten sowjetischer Juden, die seit den 70er-Jahren ausgewandert waren, erreichen. Verbesserungen waren in diesen Jahrzehnten nur möglich um den Preis der Zusicherung, dass es sich um abschließende Forderungen handele. Die deutsche Seite betrachtete verbesserte Entschädigungsleistungen als Prämie für den erhofften Schlussstrich unter die Entschädigungsfrage, welche für die jüdische Seite jedoch prinzipiell als unabschließbar galt.
Seit den späten 70er-Jahren wurden vor allem aus dem deutschen Alternativmilieu Forderungen nach Entschädigung der »vergessenen Opfer« formuliert, und in diesem neuen Entschädigungsdiskurs gerieten die Juden plötzlich in die Rolle der saturierten Verteidiger des bestehenden Systems der Entschädigung. So wurde Walter Schwarz, der jüdische Nestor des deutschen Wiedergutmachungsrechts, von zornigen jungen Deutschen gegeißelt, als er 1984 in einem Leserbrief an die ZEIT erklärte, »dass ein Deutscher das Recht hätte, auf das Werk der Wiedergutmachung stolz zu sein«.
generationenkonflikt Hier handelte es sich zugleich um einen Generationenkonflikt: Die Älteren verteidigten dabei das nach dem Krieg geschaffene System der Wiedergutmachung, während die Jüngeren einen radikalen Neuansatz forderten. Dieser sollte sich nicht mehr primär am Maßstab der vor der Verfolgung eingenommenen sozialen Positionen, sondern an den aktuellen Bedürfnissen der NS-Opfer orientieren. Die Jewish Claims Conference, die stets auf diskrete Verhandlungen mit der Bonner Ministerialbürokratie statt auf lautstarke öffentliche Auftritte gesetzt hatte, geriet in dieser neuen Auseinandersetzung in den Hintergrund.
Das änderte sich schlagartig mit der deutschen Wiedervereinigung: Der Eiserne Vorhang hatte im sowjetischen Machtbereich Rückerstattungs- und Entschädigungsansprüche für jüdische NS-Opfer jahrzehntelang stillgelegt. Nach dem Ende des Kalten Krieges entstand dagegen eine vor allem von den USA unterstützte Welle, die »unerledigten Fragen« des Holocaust endlich zu regeln. Dazu gehörte die Klärung der Ansprüche auf früheres jüdisches Eigentum im ehemaligen Ostblock ebenso wie die Ausweitung von Entschädigungsleistungen auf dort lebende jüdische NS-Opfer, die bislang von Ansprüchen ausgeschlossen waren.
skandalisierung Nachdem sich am Ende des 20. Jahrhunderts auch jüdische Organisationen stärker auf eine Kombination von medialer Skandalisierung und juristischen Klagen verlegt hatten, kehrte die Jewish Claims Conference zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder in die vertrauten Bahnen diskreter Arkanpolitik zurück. Dies mag auch damit zu tun haben, dass sie gelegentlich selbst zum Ziel derartiger Skandalisierungsmechanismen wurde.
Statt öffentlicher Kampagnen finden nun jährliche Verhandlungen mit dem Bundesfinanzministerium statt, die regelmäßig zu neuen Entschädigungsleistungen für jüdische NS-Opfer führen. Doch besitzen diese mittlerweile eine andere Grundlage als in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik: Ging es damals um die Rehabilitierung jüdischer Überlebender, steht nun die Altenhilfe im Zentrum.
Indem beide Seiten damit akzeptieren, dass die Entschädigungsfrage auf die Generation der unmittelbar Betroffenen beschränkt werden soll, kommt es so nach 60 Jahren gemeinsamer Verhandlungen gewissermaßen auf natürliche Weise zu einer Konvergenz der eigentlich unvereinbaren Perspektiven der jüdischen und deutschen Seite: Der unendliche Horizont der Entschädigungsforderungen schließt sich allmählich biografisch.
Der Autor ist Professor für Zeitgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum.