Die Geschichte des Zentralrats der Juden in Deutschland ist mehr – viel mehr – als die Geschichte einer gewöhnlichen Organisation oder eines »normalen« Interessenverbandes. Sie ist aufs Engste mit der Geschichte der jüdischen Gemeinschaft in diesem Land verbunden. Sie ist die Geschichte einer langsamen und nicht immer einfachen, aber doch steten Integration der jüdischen Bevölkerungsgruppe in die deutsche Gesellschaft. Damit ist sie freilich auch aufs Engste mit der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – diese ist nur um ein Jahr älter als der Zentralrat – verknüpft. Sie ist zudem eine Geschichte, die beim Aufbau unserer Zukunft stets lebendig bleibt und bleiben muss. Nur wer weiß, woher er kommt, kann den richtigen Weg nach vorn bestimmen.
Vor sechzig Jahren wurde der Zentralrat von Vertretern jüdischer Gemeinden aus allen Teilen Deutschlands gegründet. Das Ereignis blieb in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet; das Medienecho war gering. Dennoch war es ein Ereignis von großer Tragweite, stellte doch der Gründungsakt eine Anerkennung der Tatsache dar, dass zumindest ein Teil der 250.000 Juden die auf deutschem Boden befreit wurden oder die es nach dem Holocaust nach Deutschland verschlagen hatte, das Land jedenfalls nicht in unmittelbarer Zukunft verlassen würde.
Land der Täter Oft – wahrscheinlich sogar in den meisten Fällen – war der Verbleib in Deutschland, dem Land der Täter, nicht oder zumindest nicht ganz freiwillig. Ein Teil der Gestrandeten war nach der Verfolgung gesundheitlich und seelisch nicht imstande, sich den Herausforderungen einer weiteren Emigration in fremde Länder oder dem schweren Leben in dem neuen Staat Israel auszusetzen. Andere glaubten, Deutschland zu einem späteren Zeitpunkt verlassen zu können. Gleichwohl erwies sich die Bildung einer übergreifenden politischen Vertretung als ein für jüdische Belange unausweichlicher Schritt.
Aber kein besonders populärer. In der jüdischen Welt und in Israel stieß die Gründung einer jüdischen Vertretung in Deutschland auf zum Teil heftigen Widerstand. In den ersten Jahren seiner Existenz sah sich der Zentralrat einem faktischen Boykott jüdischer Organisationen jenseits der Grenzen und israelischer Institutionen gegenüber. Auch in der deutschen Umgebung stieß das sich etablierende jüdische Leben nicht nur auf Begeisterung: Nicht umsonst gehörte die Abwehr des Antisemitismus von Anfang an zu den Hauptaufgaben der neuen Organisation.
Dennoch konnten die zahlreichen Widrigkeiten den Zentralrat nicht abschrecken, seiner Doppelaufgabe – der Stärkung jüdischer Einrichtungen nach innen und der Vertretung jüdischer Belange nach außen – nachzukommen. In den 50er-Jahren leistete der Zentralrat einen wichtigen Beitrag zur Formulierung des Bundesentschädigungsgesetzes, mit dem einem Teil der Holocaust-Überlebenden Entschädigungsansprüche zuerkannt wurden. Dabei war das juristische Wissen des ersten Generalsekretärs des Zentralrats, Hendrik van Dam, von unschätzbarem Wert. Mit der Wahl des Berliner Gemeindevorsitzenden Heinz Galinski zum ersten Vorsitzenden des Zentralrats erhielt auch die Bildungs- und Jugendarbeit wichtige Impulse.
In den 60er- und 70er-Jahren wirkte der Zentralrat auf eigenen Wunsch hauptsächlich im Stillen. Eine aktive Öffentlichkeitsarbeit schien damals nicht erforderlich zu sein. Weder waren die Medien so neugierig wie heute noch hatte die jüdische Gemeinschaft ein ausgeprägtes Interesse an einer Selbstdarstellung in der nichtjüdischen Umwelt. Schließlich herrschte damals noch die These von der nur vorläufigen Existenz jüdischer Gemeinden auf deutschem Boden vor; »Liquidationsgemeinde« war der dafür gebräuchliche Begriff. Auch offene Auseinandersetzungen mit den Regierenden waren nicht an der Tagesordnung. Hauptsächlich beschränkte sich die Öffentlichkeitsarbeit auf Presseerklärungen und Stellungnahmen zu aktuellen Problemen. Der 1963 gewählte Zentralratspräsident Herbert Lewin setzte ohnehin auf eine unauffällige Amtsführung. Sein 1969 gewählter Nachfolger, Werner Nachmann, war eine bundesweit bekannte Persönlichkeit, setzte aber im Verhältnis zu Bonn eher auf stille Diplomatie.
Koffer auspacken Nach und nach wurden die ebenfalls sprichwörtlichen »gepackten Koffer« ausgepackt und verschwanden schließlich auf dem Dachboden. Auch der Ausbau einer Basis für jüdische Kontinuität schritt voran. Das vielleicht sichtbarste Zeichen war die 1979 in der Trägerschaft des Zentralrats erfolgte Gründung der Hochschule für jüdische Studien, die über klassische akademische Forschung und Lehre hinaus mit der Mitwirkung an der Ausbildung von Rabbinern, Kantoren und Religionslehrern beauftragt wurde.
Mehr und mehr erhob der Zentralrat seine Stimme auch öffentlich und scheute, wenn er es für erforderlich hielt, auch nicht die offene Auseinandersetzung mit der großen Politik. Eine Zäsur in dieser Beziehung brachte das Jahr 1985. Als sich herausstellte, dass Bundeskanzler Helmut Kohl gemeinsam mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan bei dessen Deutschland-Besuch den Soldatenfriedhof in Bitburg besuchen wollte, brach unter Juden in Deutschland ein Sturm der Entrüstung aus, waren doch in Bitburg auch Angehörige der Waffen-SS beigesetzt worden. Eine Versöhnung über SS-Gräbern aber, so der Zentralrat, sei nicht möglich. Als Reaktion auf Bitburg blieb der Zentralrat auch dem von der Bundesregierung als »Gegenpol« geplanten Gedenkbesuch Kohls und Reagans im ehemaligen KZ Bergen-Belsen fern. Die Bitburg-Affäre war damit ein Zeichen für das gestiegene Selbstbewusstsein von Menschen, die sich nicht mehr als eine Randgruppe der Gesellschaft, sondern als deren vollwertige Mitglieder empfanden. So riss Bitburg nicht nur alte Wunden auf, sondern kam für Juden auch einer bestandenen Reifeprüfung gleich.
Eine weitere Prüfung folgte drei Jahre später. Im Frühjahr 1988, nur wenige Monate nach dem Tod des Zentralratsvorsitzenden Werner Nachmann, stellte sich heraus, dass der Verstorbene ein Bankkonto des Zentralrats, auf dem Fondsmittel der Bundesregierung für Härteleistungen an Holocaust-Überlebende aufliefen, nicht nur verwaltet, sondern auch gröblich missbraucht und rund 30 Millionen D-Mark in dunklen Kanälen hatte verschwinden lassen.
Als der Diebstahl bekannt wurde, stand an der Spitze des Zentralrats der nach einer Pause von zweieinhalb Jahrzehnten zum zweiten Mal in das Vorsitzendenamt gewählte Heinz Galinski. Ihm war die Schwere der von seinem Vorgänger begangenen Tat ebenso sofort bewusst wie der dem Zentralrat drohende Verlust seiner im Laufe der Jahre mühsam aufgebauten Glaubwürdigkeit. Ohne zu zögern, traf Galinski die einzig richtige Entscheidung zum Umgang mit der Affäre Nachmann: Offenheit. Er unterrichtete umgehend die Bundesregierung und die deutsche Öffentlichkeit. Der Verbleib der gestohlenen Gelder wurde nicht aufgeklärt. Doch konnte der Zentralrat den befürchteten politischen Schaden für sich selbst und für die jüdische Gemeinschaft als Ganzes durch die schonungslose Offenlegung abwenden.
1989 Der Fall der Berliner Mauer wurde auch für den Zentralrat zu einem historischen Moment. Nach Verhandlungen zwischen dem Zentralrat auf der einen sowie Bund und Ländern auf der anderen Seite wurde eine offizielle Zuwanderungsregelung für Juden aus der UdSSR beschlossen. Dabei fanden die Zuwanderer Aufnahme als sogenannte Kontingentflüchtlinge. Damit war die Grundlage für einen Anstieg des Mitgliederbestandes der jüdischen Gemeinden in Deutschland auf das Dreieinhalbfache des Standes von 1989 gelegt.
1990 wurde auch eine jüdische Wiedervereinigung gefeiert. Den 1950 an sich selbst erhobenen Anspruch, alle Juden in Deutschland zu vertreten, konnte der Zentralrat in der DDR seinerzeit nicht verwirklichen. Jüdische Belange im anderen deutschen Staat wurden im Rahmen der vom SED-Regime gesetzten, engen Grenzen vom Verband der Jüdischen Gemeinden in der DDR wahrgenommen. 1990 wurde der ostdeutsche Verband mit dem Zentralrat verschmolzen. Die fünf zu diesem Zeitpunkt in der DDR bestehenden jüdischen Gemeinden traten dem Zentralrat bei. Die Jüdische Gemeinde zu Berlin wurde wiedervereinigt.
Die Zuwanderung aus der Ex-UdSSR stellte den Zentralrat vor eine nie da gewesene Fülle von Integrationsaufgaben. Gleichzeitig wurde die Einbindung in die nichtjüdische Umwelt intensiviert. Diese beiden Anliegen voranzubringen, wurde auch zu einem Hauptanliegen der nach der Wende gewählten Präsidenten des Zentralrats, Ignatz Bubis, Paul Spiegel und Charlotte Knobloch.
Als Zentralratspräsident zeichnete sich der 1992 nach Galinskis Tod in das Spitzenamt gewählte Bubis auch durch seinen unermüdlichen Einsatz für eine tolerante und offene Gesellschaft aus, die nicht nur Juden, sondern auch andere Minderheiten akzeptieren müsse. Nach Bubis Tod im Jahre 1999 wurde Paul Spiegel zum Präsidenten des Zentralrats gewählt. Er engagierte sich für eine breite Palette jüdischer wie gesamtgesellschaftlicher Belange. Auch dadurch ist es ihm gelungen, das Ansehen der von ihm vertretenen jüdischen Bevölkerung zu mehren.
Als erste Frau rückte 2006 Charlotte Knobloch an die Spitze des Zentralrats auf. Allerdings war diese Wahl nicht das Ergebnis einer wie auch immer gearteten »Frauenquote«, sondern die Würdigung eines jahrzehntelangen Engagements für die jüdische Sache. Knoblochs Amtstätigkeit galt von Anfang an einer Festigung des jüdischen Lebens. Die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion und den Ausbau der jüdischen Infrastruktur bezeichnete sie oft als die Grundlage für eine jüdische Renaissance in der Bundesrepublik – Worte, wie sie vor einigen Jahrzehnten undenkbar gewesen wären, inzwischen aber ein durchaus realistisches Ziel vorgeben.
Heute spielt der Zentralrat aber nicht nur in der deutschen Gesellschaft, sondern auch in der jüdischen Welt eine herausragende Rolle. Die Ablehnung und die Kritik der frühen Jahrzehnte wich nach und nach der Akzeptanz. Von Isolation kann in unserer Zeit keine Rede mehr sein. Vielmehr ist die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ein geachteter Teil der jüdischen Welt. In jüdischen Organisationen bekleiden Vertreter des Zentralrats Schlüsselpositionen; auf ihre Meinung wird Wert gelegt. Auch das ist ein wichtiges Stück Integration.
Der Autor ist Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland. Von ihm erscheint dieser Tage das Buch: »Wagnis Zukunft. 60 Jahre Zentralrat der Juden in Deutschland« im Berliner Verlag Hentrich & Hentrich (80 Seiten, 8,90 €, Jüdische Miniaturen Band 100).