Fast sechs Wochen ist es her, dass in Thüringen ein neuer Landtag gewählt wurde. Nun könnte erstmals ein Vertreter der Linkspartei Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes werden. Bodo Ramelow führte seine Partei bei der Wahl am 14. September zu einem Anteil von 28,2 Prozent. Sie wurde damit erneut zweitstärkste Kraft hinter der CDU. Allerdings: 2009 betrug der Rückstand auf die CDU 3,8 Prozentpunkte, nun sind es 5,3. Rot-Rot-Grün hätte im Landtag lediglich eine Mehrheit von einer Stimme. Gleiches gälte aber auch für die bisherige schwarz-rote Koalition.
Auch vor fünf Jahren hätten sowohl Schwarz-Rot als auch Rot-Rot-Grün eine Mehrheit gehabt. Doch nach wochenlangen Sondierungsgesprächen entschied sich die SPD damals schließlich für eine Koalition mit der CDU, obwohl Ramelow am Ende sogar auf seinen Anspruch auf das Ministerpräsidentenamt verzichtet hatte.
Diesmal könnte es, trotz denkbar knapper Mehrheitsverhältnisse, anders laufen. Nachdem die SPD mit 12,4 Prozent ihr schlechtestes Wahlergebnis seit 1990 verzeichnete, will man dort künftig lieber Juniorpartner der Linken als der CDU sein. Am Montagabend dieser Woche beschloss der thüringische SPD-Landesvorstand einstimmig, Koalitionsverhandlungen mit der Linken und den Grünen aufzunehmen. Das letzte Wort soll dann die Basis im November bei einer Mitgliederbefragung haben.
selbstkritik Müssen sich die Juden – nicht nur in Thüringen – jetzt Sorgen machen? Ein Ministerpräsident aus einer Partei, die im Sommer in Essen, Berlin und Bremen gemeinsam mit Hamas-Anhängern gegen Israel demonstrierte? Jener Partei, die sich bis heute nicht vollständig vom antizionistischen Erbe der DDR-Staatspartei SED und linker Splittergruppen aus Westdeutschland frei gemacht hat?
Als Bodo Ramelow sich Zeit für ein Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen nimmt, kommt er gerade aus einem christlichen Gottesdienst. Der 58-Jährige ist als praktizierender Protestant in seiner eher dem Atheismus zugewandten Partei ein Exot. Der frühere Gewerkschaftssekretär hält den Religionsfeinden in der Linken die jüdischen Wurzeln der Arbeiterbewegung entgegen: »Ich finde es sehr seltsam, dass manch einer bei uns vergisst, wie viel jüdischer Anteil, aus der gesamten jüdischen Philosophie und Theologie, zum Beispiel im Marxismus steckt.«
Heftig kritisierte Ramelow seine Genossen auch, als bei einer von der Linken mitorganisierten Gaza-Kundgebung in Essen in diesem Sommer antisemitische Parolen skandiert wurden. Als Linke habe man die Pflicht, »als Konsequenz aus der Vernichtung und den Konzentrationslagern«, dafür zu sorgen, dass Juden in Deutschland nie wieder in Angst leben müssen.
»Jenseits von parteipolitischer Logik und Wahlkampfhickhack gibt es eine hohe Verantwortung«, sagt Ramelow mit Blick auf den Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge 2000 und die aus Thüringen stammende Terrororganisation »NSU«. Als die NPD vor Moscheen demonstrieren wollte, habe sich die Linke Seite an Seite mit der Jüdischen Landesgemeinde, den christlichen Kirchen und allen damals im Landtag vertretenen Parteien schützend vor die bedrohten Gebäude gestellt. Mit der amtierenden Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) arbeitete Ramelow als Oppositionsführer zusammen, um einen Lehrstuhl für Jüdische Theologie einzurichten. Daraus ging letztendlich das Potsdamer Abraham Geiger Kolleg (AGK) hervor, das Lieberknecht und er gerne nach Thüringen geholt hätten. 2013 verlieh ihm das AGK die Abraham-Geiger-Plakette.
wohlgesonnen An der Spitze der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen geht man ziemlich gelassen mit der Aussicht um, dass die nächste Regierung in Erfurt von Linken geführt werden könnte. Reinhard Schramm, der Vorsitzende, sagt sogar: »Bodo Ramelow ist mein Freund.« Schramm sitzt für die SPD im Stadtrat von Ilmenau. Er hat Ramelow vor zwei Jahrzehnten kennengelernt. Als er damals mit ihm über den Antisemitismus in Deutschland sprach, habe ihn Ramelows »klare Haltung« und dessen »Unterstützung für die jüdische Gemeinde« sehr beeindruckt, ebenso, dass der Linkspolitiker versuche, die Probleme des Nahen Ostens zu verstehen und sich mit aller Klarheit für Israel einsetze.
Schramms Stellvertreter im Vorstand, Juri Goldstein, sieht einen möglichen Ministerpräsidenten Ramelow skeptischer. Es werde sich zwar in dem Fall »für die Landesgemeinde nichts ändern«, glaubt der 31-jährige Erfurter Rechtsanwalt: »Ich habe Bodo Ramelow einige Male bei Veranstaltungen der Gemeinde erlebt und fand ihn souverän und der Landesgemeinde wohlgesonnen.« Politisch aber hält Goldstein, der CDU-Mitglied und für seine Partei Nachrücker für das Erfurter Kommunalparlament ist, »Rot-Rot-Grün für nicht vertretbar«.
kontroverse Streit um Ramelow gab es vor zwei Jahren. In einem Artikel der »Jerusalem Post« hieß es damals, er habe Bestrebungen der Schweizer Supermarktkette Migros, israelische Produkte aus der Westbank gesondert zu kennzeichnen, als »legitime Maßnahme« bezeichnet. Der damalige Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan J. Kramer, forderte Ramelow deshalb indirekt zum Austritt aus der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) auf.
Der fühlte sich extrem missverstanden. Im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen betonte er damals, er lehne »jede Art von Boykott gegen Israel« ab, so etwas verbiete sich gerade für Deutsche generell. Im Gegenteil habe er zu den schärfsten Kritikern des Jenaer Oberbürgermeisters Albrecht Schröter (SPD) gehört, der einen Boykottaufruf der katholischen Organisation Pax Christi unterzeichnet hatte (und übrigens heute stellvertretender Landesvorsitzender der SPD ist). Reinhard Schramm stellte sich damals öffentlich an die Seite Ramelows. Der kritisiere zwar den israelischen Siedlungsbau, lehne aber jegliche Form von Boykotten strikt ab.
Er habe wohl weiterhin Zweifel an der Partei Die Linke als Ganzes, konstatiert Schramm heute. An ihren Rändern und zum Teil auch in ihrem Zentrum gebe es Personen, denen er lieber keine Regierungsverantwortung einräumen würde. In Thüringen aber sei das anders. Zumal Bodo Ramelow dort mit seinen Positionen in der Partei nicht alleine stehe.