Der Auschwitz-Prozess in Lüneburg, bei dem sich Oskar Gröning dem Vorwurf der Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen stellen muss, ist in seiner Schlussphase. Der Staatsanwalt und ein Vertreter der Nebenkläger haben ihre Plädoyers am Dienstag gehalten, dreieinhalb Jahre Haft fordert der Staatsanwalt. Wegen einer »rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung« solle davon über ein Jahr ausgesetzt werden.
Dreieinhalb Jahre Haft reichten angesichts der Dimension der Verbrechen in Auschwitz nicht aus, sagte der Anwalt Christoph Rückel am Mittwoch vor dem Lüneburger Landgericht. Die Anwältin Suzan Baymak-Winterseel beantragte sogar, den früheren SS-Mann wegen Mordes in Mittäterschaft zu verurteilen.
Der Angeklagte, der mittlerweile 94-jährige »Buchhalter von Auschwitz«, hatte bis zum letzten Verhandlungstag nicht selbst gesprochen, sondern sprechen lassen. Ob er das einem Angeklagten zustehende »letzte Wort« vor dem Urteil genutzt hat, entschied sich nach Redaktionsschluss.
Eine Einlassung hatte seine Anwältin Susanne Frangenberg vergangene Woche verlesen: Mit seiner Tätigkeit im Konzentrationslager habe er dazu beigetragen, dass das »System Auschwitz funktionierte«. Auch räumte Gröning ein, nicht nur vereinzelt sondern »immer mal wieder« an der Rampe tätig gewesen zu sein. Diese Erweiterung des Geständnisses mag aber auch daran liegen, dass in der vorherigen Prozesswoche ein Historiker als Sachverständiger die Unwahrscheinlichkeit von vereinzelten Einsätzen erklärt hatte.
enttäuschung Rechtsanwalt Thomas Walther, der viele Nebenkläger im Prozess vertritt, hatte sich erhofft, dass sich Gröning direkt an die Überlebenden wendet. Walther sprach nun von einer »großen Enttäuschung« nach der verlesenen Aussage. In seinem am Dienstag vorgetragenen Plädoyer ging Walther auf Grönings Einlassungen ein: Er habe von »Funktionieren« gesprochen, aber nicht von Mord. »Es ist doch exakt das Funktionieren im gegenseitigen Mitmachen all der kleinen Rädchen im Getriebe der Mordmaschinerie, die aus den ›Mitmachern‹ diejenigen werden lässt, die als Prototyp durch ihre ›funktionale Beihilfe zum Mord‹ den Massenmord erst ermöglichen.«
Letztlich ging es in diesem Prozess nicht so sehr um die Bestrafung eines einzelnen Täters. Die Bedeutung für die 51 Nebenkläger drückte Walther in der Wir-Form so aus: »Wir, die Überlebenden und Kinder der Opfer, dachten, Sie könnten sehr viel ›besser‹ sein als all die Angeklagten in den früheren NS-Prozessen.« Etliche der Auschwitz-Überlebenden und ihre Angehörigen hätten die Hoffnung auf »eine Art Dialog« gehabt.
Elaine Kalman Naves aus Kanada, die in Lüneburg als Nebenklägerin stellvertretend für ihre ermordete Halbschwester Evike auftrat, sagte: »Ich hoffe, dass er nun als sehr alter Mann endlich verstanden hat, welches große und tragische Ausmaß seine Handlungen als junger Mann hatten.«
zweifel Doch die Nebenkläger zeigten sich am Ende enttäuscht von dem angeblich reumütigen Angeklagten. Dass es in diesem Prozess um die gesellschaftliche Systematik des Verbrechens ging, der sich die deutsche Justiz jahrzehntelang verschlossen hatte, betonte auch Josef Schuster in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland sagte: »Unserer Gesellschaft führen solche Prozesse wie der gegen Oskar Gröning noch einmal vor Augen, wozu Menschen fähig sind.« Sie zeigten, wohin Hetze gegen Minderheiten führen kann. »Die gibt es nämlich heute wieder, und sie mündet oft genug in Gewalt.«
Ob es tatsächlich die Konfrontation mit den Aussagen der Zeugen war, die den 94-jährigen Gröning dazu gebracht hat, sich mit der eigenen Beteiligung an den Nazi-Verbrechen auseinanderzusetzen, lässt sich nicht sicher sagen. Als im Anschluss an seine vorgelesene Einlassung Irene Weiss in sehr bedrückender Weise das von ihr erlebte Leid in Auschwitz-Birkenau schilderte, war bei Gröning kaum eine Regung zu entdecken. Dabei wurden während Weiss’ Aussage, die wohl der letzte Auftritt einer Überlebenden in diesem Prozess war, Fotografien aus dem berüchtigten »Auschwitz-Album« an die Wand des Gerichtssaales projiziert. Irene Weiss hatte sich per Zufall auf einem der Fotos entdeckt, das in Auschwitz entstand, kurz bevor dort ihre gesamte Familie ermordet wurde.
relativierung Zweifel an der Ehrlichkeit von Grönings Aussage werden auch dadurch genährt, dass es trotz des Eingeständnisses nicht an den üblichen Relativierungsmechanismen mangelte: Der anerzogene Gehorsam sei es gewesen, der eine Auflehnung gegen das System verhinderte, heißt es in der Erklärung, die seine Verteidigerin verlas. Thomas Walther prangerte diese Relativierung in seinem Schlussplädoyer direkt an. »Ist der Mann Gröning nicht verantwortlich für seinen eigenen Gehorsam?« (mit epd)