Kürzlich schlug der Antisemitismusbeauftragte des Landes Hessen vor, den 7. Oktober in Deutschland zu einem Gedenktag zu erklären. »Wenn wir es mit unserer deutschen Staatsräson gegenüber Israel ernst meinen, dann sollten wir mit dieser schrecklichen Zäsur in der Zukunft in besonderer Weise umgehen«, mahnte Uwe Becker.
Dieser Gedanke, so warm und solidarisch er gemeint gewesen ist, löste in mir einen Schauer aus. Sofort spielten sich die Szenen des deutschen Erinnerungstheaters vor meinen Augen ab: Schweigeminute im Bundestag (im Block der AfD viele leere Stühle, so wie einst zur Holocaust-Gedenkstunde), Hissen der blau-weißen Fahnen (aber lieber nicht vor bestimmten Rathäusern in Berlin, wo sie schon mehrfach abgerissen und verbrannt wurden), beklemmende Reden, die am Ende eine abrupte 180-Grad-Wende hin zum »neu erblühten jüdischen Leben nach der Schoa« einschlagen (wie passend, dass wegen des Krieges noch mehr Israelis nach Deutschland gezogen sind).
Wenig Verständnis für die Schockwelle
Ich erschrak vor meinem eigenen Zynismus – hatte ich nicht vor wenigen Monaten noch beklagt, wie wenig Mitgefühl in der deutschen Gesellschaft für die Betroffenen des 7. Oktober zu finden war? Wie wenig Verständnis da war für die Schockwelle, die von den Kibbuzim, von Sderot aus Jüdinnen und Juden in Israel, in der Diaspora überrollt hatte und deren Druck nicht nachließ?
Ich glaube, ich erschauderte, weil mich der Gedanke an einen solchen Trauertag auf die Diskrepanz zwischen den symbolischen Gesten des Staates und der Empathielosigkeit weiter Teile seiner Bürger stoßen ließ. Aber auch, weil die reale Trauer, die Ohnmacht, das stille Verzweifeln – die ich in meinem eigenen Umfeld erlebt habe und die mich als Journalistin in Gesprächen mit Betroffenen immer neu erschütterte – mir in einem inszenierten Gedenken völlig entleert vorkämen.
Es war Tischa beAw, der jüdische Trauertag, an dem ich begann, darüber nachzudenken, ob man diesen Gefühlen nicht doch einen öffentlichen Raum geben könnte, auch hier, in Deutschland. Tischa beAw ist der Tag, an dem Jüdinnen und Juden der Zerstörung des Tempels in Jerusalem gedenken. 25 Stunden wird nichts gegessen, man sitzt in der Synagoge auf dem kalten Boden, grüßt nicht, betet leise, manche schluchzen. Es ist, wenn man so will, innerhalb der jüdischen Gemeinden ein öffentlicher Gedenktag, eine angeordnete Trauer, und es gibt allerlei Rituale, die diesen Verlust erlebbar machen, obgleich er 2000 Jahre zurückliegt.
Wie so oft im Judentum, dachte ich, entsteht erst durch das Handeln ein Raum, in dem dann der Inhalt, das Gefühl, einziehen kann, und wenn es nicht kommt, so hat man immerhin mit seinem Verhalten symbolisiert, dass es hier sein darf. Manchmal ist es eben doch notwendig, dem Gedenken eine Form zu geben: um anderen zu zeigen, dass ihr Verlust darin Platz hat. Und auch, um langfristig nicht zu vergessen, dass etwas zerstört wurde, das nicht so einfach zu heilen ist.
Können wir überhaupt alles, was geschehen ist, in einen Gedenktag pressen?
Für eine solche Form der Erinnerung an das Massaker vom 7. Oktober 2023 ist es jedoch noch zu früh. Über 100 Menschen, die vor einem Jahr verschleppt wurden, sind noch in Gaza gefangen. Der längste Krieg in der Geschichte Israels hält an. Und die Vernichtungsfantasien der Terroristen hallen wider – aus Megafonen, in antisemitischen Schmierereien, in dem Tritt ins Gesicht eines jüdischen Studenten, der tödlich hätte enden können.
Der 7. Oktober war nur der Anfang
Das brachte mich zu der Frage, wie überhaupt alles, was nach dem 7. Oktober geschehen ist, an einem einzigen Tag bedacht werden könnte. Gerade aus der Perspektive der Diaspora, aus Deutschland, ist dieser Tag in der Erinnerung vieler nur der Anfang gewesen. Für einen Israeli in Berlin, den ich interviewte, war der schmerzhafteste Tag jedoch der 8. Oktober, als sein Onkel vermisst gemeldet wurde. Für viele jüdische Eltern war es der 12., als die Hamas den weltweiten »Tag des Zorns« ausrief und sie aus Angst ihre Kinder nicht zur Schule schickten. Für mich war es der 18., als Unbekannte versuchten, die Synagoge anzuzünden, in die ich am Schabbat gehe.
Tatsächlich enthält schon der jüdische Trauertag Tischa beAw diese Idee der Gleichzeitigkeit: An ihm trauern Juden nicht nur um den zerstörten Tempel, sondern erinnern in den Klageliedern auch an mittelalterliche Pogrome, an die Schoa und seit diesem Jahr auch an das Massaker der Hamas. 2000 Jahre Verfolgung, Zerstörung und Vernichtung werden so verdichtet.
Aber kann das auch ein Staat leisten? Und steht das pluralistische Deutschland dann nicht in der Pflicht, die Trauer seiner palästinensischstämmigen Bürger in dieses Gedenken mit einzuschließen?
Die schmerzvollsten Tage
Für viele Palästinenser in Deutschland kamen die schmerzvollsten Tage erst später. Eine junge Frau aus Düsseldorf erzählte mir, für sie sei es ein Tag im November gewesen, als ihr klar wurde, dass sie das Haus ihrer Großeltern nie mehr betreten würde – es war in Gaza zerbombt worden. Als wir uns unterhielten, sprach sie nur von der »Situation«, von keinem Datum.
Die »Situation«, die sich seit dem 7. Oktober bleischwer auf die Herzen derjenigen legt, die in Gedanken bei ihren Angehörigen im Kriegsgebiet sind, gleich auf welcher Seite – kann man sich ein gemeinsames Gedenken an sie vorstellen, ohne Zwischenrufe derer, die die Trauer der anderen Seite nicht ertragen können? Einen Raum ohne eine Instrumentalisierung der Tränen? Welche Grenzen braucht er?
Ein Staat, der sich als Repräsentant auch des Schmerzes all seiner Bürger versteht, muss sich darüber Gedanken machen. Ein Gedenktag aber wirft heute mehr Fragen auf, als er Antworten geben kann.