Restitution

Ein Mindestmaß an Gerechtigkeit

Die Berliner Wallstraße heute: Die Nummer 16 ist das zweite Haus links. Foto: Chris Hartung

Wenn Joanne Intrator von Berlin spricht, dann bekommen ihre großen braunen Augen ein helles Leuchten. Sie beginnt zu schwärmen von Kaffeeklatschgemütlichkeit, von der Philharmonie, von Sonntagsspaziergängen im Grunewald und von dem Gefühl der Erhabenheit, das sie befällt, wenn sie durch das Brandenburger Tor geht. »Es ist keine fremde Stadt für mich«, sagt die jung wirkende 70-jährige New Yorkerin. Sie sitzt in ihrem Büro an der Park Avenue, einer der vornehmsten Adressen Manhattans, wo die Psychiaterin ihre Patienten empfängt. An der Wand hängen ein Käthe-Kollwitz-Bild und ein Poster von einer Beethoven-Konzertreihe.

Doch man merkt ihr auch die Anspannung an, wenn sie an Berlin denkt. Denn zusammen mit den Heimatgefühlen, die sie mit der Stadt ihrer Eltern und Großeltern verbindet, steigen in ihr finstere Gedanken auf an das Schicksal ihrer Familie und ihren persönlichen Albtraum, den sie dort durchlebt hat. Der Albtraum begann 1992 mit einem Anruf von der Berliner Rechtsanwaltskanzlei von Trott zu Solz. Das Vermögensgesetz von 1990 hatte die Grundlage für die Restitution enteigneten jüdischen Besitzes in Ost-Berlin schaffen, und die Kanzlei machte sich wie viele Berliner Juristen in dieser Zeit auf die Suche nach den Anspruchsnehmern.

Heimat Joanne Intrator hatte bis zu diesem Tag nichts von dem Haus an der Wallstraße 16 gewusst, dem Haus, das ihr Großvater Jakob 1920 gemeinsam mit seinem Neffen Jakob Berglas als Bürogebäude für die Textilfirma erworben hatte. Aber sie hatte sehr wohl die Berlin-Erzählungen ihres Vaters im Ohr, der seine Heimatstadt Zeit seines Lebens vermisste. Trotz der Verfolgung, die er in Deutschland erlebte hatte, liebte er die Kultur und nahm seine Tochter in jedes Brecht-Stück mit, weil er meinte, dass es kein besseres Theater auf der Welt gebe als dieses. In den nächsten acht Jahren sollte die Wallstraße für Joanne Intrator zum Lebensinhalt, ja beinahe zur Obsession werden. Das prachtvolle 5000 Quadratmeter große Anwesen mit fünf Hinterhöfen, 1938 von den Nazis zwangsversteigert.

Dabei hatte Joanne Intrator anfänglich gedacht, dass die Sachlage eindeutig sei und sie in Berlin nur kurz ihren Anspruch geltend mache. Doch ihr Vater, der noch in Deutschland als Jurist ausgebildet wurde, bevor er 1937 in die USA floh, hatte bereits Schlimmes geahnt. Kurz bevor er im Frühjahr 1993 starb, fragte er sie besorgt: »Glaubst du, dass du stark genug bist für das, was auf dich zukommt?« Joanne Intrator versicherte ihrem Vater, dass sie der Sache gewachsen sei, doch im Nachhinein ist ihr klar geworden, dass sie damals eigentlich nicht wusste, wovon sie sprach.

Worauf genau sie sich eingelassen hatte, dämmerte ihr erstmals, als sie sich 1993 in Berlin mit Jost von Trott zu Solz traf. Mittlerweile hatten die Erben der Möbel-Firma Heim und Gerken, die das Grundstück 1938 ersteigert hatten, ebenfalls ihren Anspruch angemeldet. Und deren Rechtsanwälte waren der Ansicht, dass zwangsversteigerte Besitztümer nicht unter das neue Entschädigungsgesetz von 1994 fallen, das eine Kompensation nur vorsieht, wenn der Sachverhalt der religiösen Verfolgung als Ursache für die Enteignung zweifelsfrei geklärt werden kann.

Joanne Intrator war außer sich. Der Gedanke, dass ihre Familie die Verfolgung durch die Nazis auch noch beweisen müsse, machte sie fassungslos. Joanne Intrators Familie war in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts aus Galizien vor den dortigen Pogromen nach Berlin geflohen. Diese Erfahrung hatte es ihrem Großvater Jakob schwer gemacht, rechtzeitig aus Deutschland zu fliehen. »Er war müde, er wollte nicht noch einmal von vorne anfangen.« Intrators Vater Gerhard hatte derweil Deutschland nicht zuletzt deshalb bereits 1937 verlassen, weil er seit 1933 seinen Beruf als Anwalt nicht mehr ausüben konnte.

Jakob Intrator und seine Frau Rosa flohen 1941 nach Portugal, »wahrscheinlich nur Tage, bevor man sie nach Auschwitz gebracht hätte«, meint Tochter Joanne Intrator. Es sollte weitere zwei Jahre dauern, bis sie über Kuba nach New York kamen. Jakob Intrator starb noch am Tag seiner Ankunft in einem New Yorker Hotel.

Die »Arisierer«, wie die New Yorkerin ihre Prozessgegner nur nennt, ließ das jedoch alles kalt. Sie stritten um jeden Preis um den Besitz, den sie für 422.000 Reichsmark erworben hatten. Einige andere der mindestens 225 jüdischen Familien, die Ansprüche in Berlin-Mitte haben, ließen sich angesichts solcher Widerstände entmutigen. »Viele waren alt und müde und wollten mit Deutschland nichts mehr zu tun haben«, sagt Joanne Intrator. Doch bei ihr selbst setzte ein »Jetzt erst recht«-Effekt ein. »Ich hatte das Gefühl, dass ich eine historische und moralische Verpflichtung habe«, sagt sie.

Und dann war da auch noch die Stimme ihres Vaters in ihrem Kopf, dem sie beweisen wollte, dass sie stark genug ist, für ihn und für seinen Vater wenigstens ein Mindestmaß an Gerechtigkeit zu erstreiten. In den kommenden Jahren wurde Joanne Intrators Willensstärke mehrmals auf die Probe gestellt. Vonseiten ihrer Berliner Anwälte wuchs zunehmend der Druck, sich außergerichtlich zu einigen. Und auch in ihrer eigenen Familie, bei den Erben des Familienzweigs Berglas, war man geneigt, das Ganze hinter sich zu bringen.

Hartnäckigkeit Doch Joanne Intrator ließ nicht locker. Sie heuerte einen New Yorker Anwalt, ebenfalls deutsch-jüdischer Herkunft, an. Und sie vertiefte sich immer mehr in die Geschichte des Anwesens und in die Geschichte ihrer Familie. Dabei lernte sie, dass Teile des Hauses während des Dritten Reichs an einen Textilhersteller vermietet worden waren, der mithilfe von Zwangsarbeitern dort Judensterne nähte. Und sie fand verzweifelte Briefe, die Mitglieder der weiteren Familie an ihren Vater in New York geschickt hatten, in der Hoffnung, er könne ihnen helfen, noch aus Deutschland herauszukommen.

Die schwerste Prüfung für Joanne Intrator kam jedoch im Herbst 1997, als sie eingeladen wurde, bei den Beamten der Landesanstalt zur Regelung offener Vermögensfragen vorzusprechen. »Es war vom ersten Augenblick an ein Horror«, sagt sie heute. Von dem Moment an, in dem sie die Amtsstube in Berlin betrat, »so trist wie aus dem Film Das Leben der Anderen«, erzählt sie, fühlte sie sich unter Beschuss. »Sie haben sofort angefangen, meinen Großvater zu attackieren.« Im Bestreben, nachzuweisen, dass der Besitz nicht aus religiösen Gründen enteignet wurde, produzierten die Beamten ein vermeintliches Beweisstück nach dem anderen, dass Jakob Intrator ein schlechter Geschäftsmann gewesen sei, der das Gebäude mit mehreren Hypotheken belastet und entwertet habe, um seine Firma am Leben zu erhalten.

Zehn Minuten hielt Joanne Intrator aus, dann konnte sie die Tränen und den Zorn nicht mehr zurückhalten. »Mein Vater hatte recht«, schrie sie in den Saal. »Ich werde von Deutschland keinen Cent bekommen.« Immerhin ließ sich die Richterin erweichen, den Antrag beschleunigt zu bearbeiten. Dennoch dauerte es weitere drei Jahre. Und die Erben der »Arisierer« handelten mit Joanne Intrators Anwälten einen Vergleich aus, damit sie keine weiteren rechtlichen Schritte unternehmen konnte.

Buchprojekt Gut 15 Jahre ist die Einigung jetzt her, aber Berlin, die Wallstraße und alles, was für sie damit verbunden ist, haben Joanne Intrator nicht mehr losgelassen. In ihrer Büropraxis an der Park Avenue stapeln sich die Akten und Dokumente zu der Geschichte, sie arbeitet an einem Buch. Und nach der Ausstellung über die Arisierung Berlins im Stadtmuseum 2014 setzte sie allerlei Hebel in Bewegung, um die Schau auch nach New York zu bringen. »Die Geschichte muss erzählt werden, immer und immer wieder.«

Eines treibt sie an der Sache besonders um. »Ich habe mir immer wieder überlegt, warum für mich dieses Haus so wichtig war, dieses Grundstück.« Schließlich sei es doch nur ein Ding, und niemand sei deswegen gestorben. Die Antwort fand sie in einem der Briefe, die ihr Vater 1938 erhielt, als er bereits in New York war. Er stammte von einem Verwandten namens Max Karp, der Tage vor der Pogromnacht in den frühen Morgenstunden in seiner Wohnung verhaftet und über die polnische Grenze deportiert worden war.

Karp beschreibt die Zustände in dem Vertriebenenlager Zbaszyn, er beschreibt, wie sie über Land dorthin getrieben wurden, wie sie aus Erschöpfung die wenigen Koffer, die sie mitnehmen konnten, zurücklassen mussten, wie sie in elenden Baracken zusammengepfercht wurden, und wie verzweifelt die Menschen waren. »Es gibt viele Todesfälle hier«, schreibt Karp, »auch Selbstmorde. Menschen brechen zusammen und werden wahnsinnig. Man findet nirgendwo Frieden.«

Tage zuvor hatten die Vertriebenen von Zbaszyn in ihren Wohnungen in Berlin noch eine bürgerliche Existenz geführt. »Die willkürliche Enteignung, die Entwurzelung ist der erste Schritt zur Entmenschlichung, der erste Schritt nach Auschwitz«, sagt Joanne Intrator. Deshalb habe sie um die Wallstraße 16 so hart gekämpft. Und deshalb bereut sie keinen Augenblick.

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