Irgendwo ist jetzt Tag, irgendwo Nacht. Runtergezogene Rollos, unser schwebender Zwischenraum brummt diffus vor sich hin. Wir sind nicht mehr dort, noch nicht da. »Ich sitze so gern am Fenster«, sagt Margot Friedländer. Aus der Tiffany-Tüte neben ihr blinzelt Stofftier-Welpe Neustadt, ein Geschenk von einer Autorenlesung in Schleswig-Holstein. Geschlafen habe sie nicht, nur gedöst. Früher habe sie vorm Fliegen große Angst gehabt. Von ihrer ersten Europareise war Margot Friedländer deshalb per Schiff nach Amerika zurückgekehrt. Damals lebte noch ihr Mann Adolf. An einen Stopover in Deutschland war nicht zu denken.
Landung Begonnen hatte der Countdown des außergewöhnlichen Fluges am Samstag zuvor in New York. Von Queens war Friedländer nach Brooklyn gefahren, wo der deutsche Regisseur lebt, mit dem sie befreundet ist. Er hat vor sechs Jahren eine Dokumentation über ihre Geschichte gedreht; jetzt soll aus dem, was aktuell passiert, eine Fortsetzung entstehen. Aber der dickste Sturm seit 60 Jahren zieht auf. Der Kameramann schafft es wegen U-Bahn-Ausfall nicht bis Brooklyn. Das Flugzeug, mit dem aus Berlin ein Zeitungsreporter hinzustoßen soll, setzt taumelnd zur Landung an, startet kurz vorm Bodenkontakt wieder durch. Manchmal muss man bereit sein, in letzter Sekunde einen Rückzieher zu machen. Für Margot Friedländer gibt es diese Option eigentlich nicht.
Am Sonntag landet der Reporter dann doch noch in New York. »Wir sind alle kaputt«, sagt Margot Friedländer, als sie im siebten Stock die Tür öffnet. Ihr Appartement in Queens sieht aus wie eine Messie-Höhle. Die Abschiedsparty im Villen-Vorort Westchester kann nicht bei der Cousine stattfinden, wo ein Baum aufs Auto gestürzt und noch Stromausfall ist, sagt die 88-Jährige. Sie steigt zum letzten Mal in ihren Honda. »Ich fahre gern, es entspannt mich.« Sie hupt häufig und telefoniert. In Westchester liegen Riesenbäume entwurzelt überm feinen Rasen.
I am a Berliner Im Haus von Gabi, die als Reiseagentin mal ihre Kollegin war, gibt es Bagel, Gurken, Kuchen, zuletzt ein Schlückchen Sekt. Drei Paare, mehr oder weniger jüdisch. Akademiker, Künstler, herzlich distanziert. Und das Filmteam ist da. »Margot geht zurück, aber hier ist doch ihre Heimat – ist sie wirklich amerikanisiert?«, fragt der Künstler. »Definitely not«, sagt Friedländer. »Deutsch auch nicht. Ich bin international. I am a Berliner.«
Am Montag wird es ernst. Sie entscheidet, den ganzen Tag lang mitten im Gewühl, was für die Kartons, was für die Koffer, was für den Müll bestimmt ist. Die La- tino-Packer von International Shipping NY verbreiten therapeutische Beruhigung. Möbel, Bücher, Kleider und Bilder verschwinden in klebebandumschnürten Kartons. Der Korridor füllt sich mit numerierten Pappkisten, auf denen Friedlander steht, Freidland oder der Name des Aussiedlerlagers Friedland. Zwischendurch streckt sie sich, mitten im Getümmel, auf den Liegesessel. Die Packer erzählen, dass Israelis am häufigsten umziehen. »Sie sind auch jüdisch?«, fragen sie. »Ja«, antwortet Margot Friedländer, »aber ich kann kein Hebräisch.« Der Korridor, ein düsterer Transit-Schlauch, steht jetzt voll mit all dem, woran sie hängt. Es ist dunkel, als sie mit dem Filmteam das polnische Restaurant »Just like Mother’s« am Queens Boulevard aufsucht. Dafür hat sie sich in ein orangefarbenes Kleid geworfen. Sie kann sich nicht hängen lassen. Auch Wegwerfen fällt ihr schwer. Das halbe Schnitzel lässt sie einpacken.
Siebter Stock Sie hat hier 46 Jahre gern gewohnt. Der Blick auf den Friedhof habe sie nie gestört; nur kurz, nachdem 1997 ihr Mann gestorben war. Anfangs hatten sie zwei Jahre möbliert in Manhattan gewohnt, damals füllten ihre Kleider kaum einen Schrank; dann zogen sie nach Queens, und nach elf Jahren hierhin, siebter Stock. Er führte dem jüdischen Kulturzentrum »92nd Street Y« die Geschäfte. Sie hat sich untergeordnet. Er wollte nie über früher reden. Wollte nie nach Deutschland. Die letzten zwei Jahre war er blind. »Ein guter Mann«, sagt sie. Dass der Friedhofsblick mehr als Zufall gewesen sein könnte, ist für sie kein Thema.
Am Dienstag besucht sie Adolf in Westchester. Der Baum über seinem Grab steht noch. Steinchen aus Jerusalem legt sie auf die Platte. Sie hätte ihn gern in Berlin-Weißensee beerdigt, wo sein Vater ruht, ein Gedenkstein für seine in Auschwitz ermordete Mutter steht. »Aber hätte er das gewollt?« Sie selbst soll einmal neben ihm bestattet werden. Geboren wurde sie in Berlin: wohin ihre Mutter Guschi Groß aus dem schlesischen Teschen und ihr Vater Arthur Bendheim aus dem hessischen Langen gezogen waren. Sie hatte Adolf beim Jüdischen Kulturbund getroffen. Ihre Eltern hatten sich 1937 scheiden lassen. Ihr Vater war nach Belgien geflohen, deportiert und 1942 in Auschwitz ermordet worden, wie zwei seiner behinderten Geschwister. Der Traum, Mode zu machen, erfüllt sich nicht. Ihr Bruder wird 1943 verhaftet; die Mutter stellt sich der Gestapo, begleitet den Bruder nach Auschwitz, wo beide sterben; sie selbst überlebt, mit Hilfe vieler Nichtjuden, in der Illegalität, bis sie 1944 – von jüdischen »Greifern« verraten – nach Theresienstadt deportiert wird. Dort trifft sie Adolf wieder. Noch im Lager heiraten sie. »Diese Erfahrung unterscheidet uns von allen anderen. Das ändert sich nicht.«
Heimweh Nach Adolfs Tod hat sie im jüdischen Kulturzentrum Memoiren-Kurse belegt. Der Regisseur Thomas Halaczinsky verstärkt ihr Bedürfnis, sich mitzuteilen. 2003 auf Einladung des Senats nach Berlin gereist, konfrontiert sie sich mit den Orten dramatischer Erlebnisse; kehrt von nun an regelmäßig dorthin zurück, wo nicht nur Schüler gespannt ihren Erzählungen folgen. 2005 eröffnet ihr Film Don’t call it Heimweh das Jewish Film Festival. Die Weitergabe traumatischer Erlebnisse wird zum Lebensinhalt, zur Aufklärungs-Botschaft. Mit Unterstützung einer Coautorin entsteht ihr Buch Versuche, dein Leben zu machen. Der Titel zitiert das Vermächtnis der Mutter an die Tochter, übermittelt von jener Nachbarin, bei der Guschi Bendheim zuletzt gesehen wurde. Margot Friedländer stellt in der Biografie bohrende Fragen zu ihren verzweifelten Auswanderungsversuchen, an den Vater, der die Familie im Stich ließ, Emigrationspapiere nicht unterschrieb; an die Mutter, die es vorzog, ihrem Sohn Ralph beizustehen; an sich selbst, die durch Fluchtvorbereitungen die Gestapo alarmiert haben könnte; an die USA und ihre Einreise-Restriktionen.
Die späte Kommunikation bringt sie zurück zur Vitalität. Sie habe lange im Schatten ihres Mannes gestanden und sei heute völlig verändert, sagen Freunde. Nach der vorletzten Rückkehr in die USA fiel dann wohl ihre Entscheidung. Beim Berlin-Besuch zuvor war sie gehört, geehrt worden, zu Hause fällt ihr nun die Decke auf den Kopf. Vereinsamt in Queens hocken, zweimal die Woche ins »Y« fahren: Das reicht ihr nicht mehr. Für sieben Probe-Monate nimmt sie ab Sommer 2009 Gastquartier in einer Senioren-Anlage am KaDeWe. Mit ihrem Buch, das einen Biografie-Preis erhält, tourt sie bundesweit. An Weihnachten gastiert sie Abend für Abend bei prominenten Bürgern. Tolle Weihnachtsbäu- me, nette Gesellschaften, leckere Festessen. Einmal verdirbt sie sich den Magen.
Doping 88-Jährige verpflanzt man nicht. Manche Berliner reagieren skeptisch. Muss so jemand zum Sterben noch mal umziehen? Ist ihr Comeback eher eine narzisstische Selbstinszenierung von Gutmenschen, deren Freundschaft nicht lange tragen wird? Oder doch Wiedergutmachungs-Aktionismus, der naive Versuch, ihr für die ermordete Familie eine Gemeinschaft zurückzugeben, die sich kümmert? Wie lange wird man ihr noch zuhören? Die Zeitzeugin erlebt, dass ihre Berichte den Jüngeren die Historie nahebringen. Aber ihr Regisseur kann ein Lied davon singen, wie genervt TV-Redaktionen auf seine Doku-Idee reagierten. Schließlich hat Halaczinsky seinem starken Film soviel romantischen Soundtrack unterlegt, dass der Verdacht keimt, ohne Emotions-Doping lasse sich solcher Stoff kaum noch verkaufen.
Am Mittwoch telefoniert sie im leeren Zimmer. Wieder mal trägt sie offenbar ihr nacktes Leben davon. Auf dem doppelseitigen Medaillon, das zur Reise bereit liegt, sind Fotos von Adolf und ihrer Mutter als Mädchen zu sehen. Sie sitzt auf dem Bett und plaudert. An hohen Feiertagen seien sie zur Synagoge gegangen. Für sie bedeute fromm sein gut sein. Judentum sei eine Schicksalsgemeinschaft. Als sich Friedländer im Berliner Untergrund durchschlug, versteckte sie ihre Identität, ließ sich die verräterische Nase »arisieren«, trug ein Kreuz. Staatenlos – den Status hatte das Dritte Reich ihr verpasst – fühlt sie sich immer noch. Der deutsche Akzent hält seit 61 Jahren. Am 7. April soll ihr Berlins Innensenator Ehrhart Körting die deutsche Staatsbürgerschaft verleihen.
Bernsteinkette Am Donnerstag verabschiedet sich der durch Trinkgeld nett gewordene Hausmeister. Um den Hals trägt sie eine Bernsteinkette ihrer Mutter, jenes einzige Erbstück, das ihr die Nachbarin am 20. Januar 1943 noch geben konnte. Am Flughafen passiert Margot Friedländer nicht den Sicherheitsdetektor. Nach Adolfs Tod und 2005 hatte sie Herzattacken. Der besondere Untersuchungs-Glaskasten für Bypass-Träger umgibt die Migrantin wie ein Zwischenraum-Aquarium. Aufbruchs-Gefühle spürt sie nicht mehr.
Am Freitag landet ihr Flugzeug weich in Berlin, der Kapitale der Erinnerung und der Massenmörder, in der Hauptstadt ihrer Freunde. Angst habe sie nie gekannt, sagt sie. »Sonst hätte ich kaum all das tun können!« Die letzte Glastür ist blind. Was dahinter kommt, ahnen wir. Margot Friedländer hat sich entschlossen zu leben. Die Tür öffnet sich. Es ist 9 Uhr deutscher Zeit.