Mann ohne Mumm, schwächlicher Zauderer – Barack Obama ist schon oft von seinen politischen Gegnern verhöhnt worden. Der US-Präsident sei einfach zu weich für den Job. Gerade im Kampf gegen den Terrorismus habe der »Islamversteher« schlicht versagt. Doch diese Anwürfe gehören seit Montag der Vergangenheit an. Der Tod Osama bin Ladens durch das Gewehrfeuer der Navy Seals ist Obamas Triumph. Der Staatschef hat den Staatsfeind Nummer eins ausgeschaltet. Die Botschaft ist eindeutig: Seht her, im Weißen Haus regiert kein Weichling, sondern ein ganzer Kerl! Der Friedensfürst als Kriegsherr: Das wird viele in Europa erschüttern. Fragt sich nur, warum.
Gegenentwurf Zugegeben: Obama ist als Mann des Ausgleichs angetreten. Er inszenierte sich frei von Sheriff-Gehabe als Gegenentwurf zum rüpelhaften Cowboy George W. Bush. Und jetzt heißt es plötzlich in bester Wildwestmanier: lieber tot als lebendig. Haben sich, hat der Chef der Supermacht alle getäuscht? Mag sein. Aber selbst, wenn es so wäre, hätte jeder die Zeichen deuten können.
Der Afghanistankrieg ist unter dem 44. US-Präsidenten noch intensiver geworden als in den Jahren zuvor, das Lager Guantanamo existiert weiterhin, ebenso wie die Militärtribunale. Da passt Obamas Satz nach bin Ladens Ende gut ins Bild: Der Gerechtigkeit ist Genüge getan. Was bibeltreu so viel heißt wie Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Verstörend, sicherlich. Aber eben auch uramerikanisch. Und doch ist da ein wesentlicher Unterschied zwischen Bush und Obama. Der amtierende Präsident hat das Zeug und den Willen, aus dem Tod des islamistischen Terrorfürsten etwas Konstruktives zu machen. Statt auf außenpolitischen Hochmut muss er auf vertrauensbildende Maßnahmen setzen. Die arabische Welt ist im Umbruch. Amerika kann als glaubhafter Vorreiter dabei helfen, dass Freiheit und Demokratie in dieser Region Fuß fassen können. Willkommen, Mr. Chance!