Auf die allmählich verebbende Erregungswelle um die Thesen Thilo Sarrazins wollten einige Trittbrettfahrer aus dem Unionslager unbedingt noch aufspringen. So kündigte der abtrünnige Berliner CDU-Abgeordnete René Stadtkewitz am Wochenende die Gründung einer neuen Partei nach dem Vorbild des niederländischen Islamgegners Geert Wilders an. Weit ernster zu nehmen als das Wunschdenken dieses republikweit unbekannten Möchtegern-Popu- listen war die Warnung – oder Drohung? – von Vertriebenen-Chefin Erika Steinbach, die Marginalisierung des konservativen Flügels in der CDU könnte zu einer Parteiabspaltung führen. Sie selbst freilich, beteuert die Bundestagsabgeordnete, hege solche Pläne ungeachtet ihres Rückzugs aus dem Partei-Vorstand nicht.
Wenn der eine es nicht kann und die andere es nicht will – was ist dann dran an den Gerüchten über die bevorstehende Gründung einer »rechtspopulistischen« oder nationalkonservativen Partei? Hochgekocht ist das Thema durch eine Umfrage, laut der 18 Prozent der Wähler sich vorstellen könnten, eine von Thilo Sarrazin geführte Partei zu wählen. Doch der fällt für die Rolle des charismatischen Volkstribunen aus. Sarrazin, eine Mischung aus eigenbrötlerischem Autodidakten und sendungsbewusstem Sozialtechniker, hat sei- nen Platz nie in der ersten Reihe des politischen Getümmels gesehen.
Quertreiber Dass ihm die Zuneigung so vieler unzufriedener Bürger quer durch die politischen Lager zuflog, lag auch daran, dass in seine umständlichen, im Detail schwer verständlichen – weil übrigens eher an die Eliten als an »das Volk« gerichteten – Botschaften über den drohenden Untergang Deutschlands Unterschiedliches hineinprojiziert werden konnte. Entscheidend war der Eindruck, hier habe ein bestens präparierter Bescheidwisser der Willkür des überheblichen politischen Establishments die Stirn geboten. Doch vom Applaus für einen sperrigen sozialdemokratischen Quertreiber zur Gefolgschaft einer völlig unerprobten neuartigen Bewegung ist es im auf Kontinuität und Risikominimierung bedachten Deutschland noch ein großer Schritt.
So diffus wie die Motive der Zustimmung für Sarrazin ist das Unzufriedenheitspotenzial insgesamt, auf das eine neue Anti-Establishment-Partei aufbauen könnte. Wollte sie es ausschöpfen, dürfte sie sich nicht auf ein christlich-nationalkonservatives Erweckungsprogramm verengen. Ohnehin ist der »konservative Flügel« in der Union allenfalls noch ein Schatten früherer Tage. Es fehlt ihm unter anderem an markanten Führungspersönlichkeiten – was nicht von ungefähr kommt.
Das nationalkonservative Segment in der Union trocknet aus, weil seine Wertvorstellungen mit den Bedürfnissen und Obsessionen der modernen Gesellschaft nicht mehr Schritt halten können. Nur die wenigsten, die in der Sarrazin-Debatte ihrer Wut darüber Ausdruck gaben, als »autochthone Deutsche« angeblich nicht mehr ernst genommen zu werden, würden sich von einer national tönenden Partei auch gegen Abtreibung, für den einkaufsfreien Sonntag oder einen Gedenktag an die deutschen Vertriebenen mobilisieren lassen. Komplett anachronistisch ist die aufgewärmte Idee aus der Ära Strauß, die CSU solle sich bundesweit ausdehnen, um abspenstige konservative Wählerkreise zurückzugewinnen. Stehen doch die Christsozialen ihrer großen Schwesterpartei an konturloser Beliebigkeit längst nicht mehr nach.
Unterklasse Eine massenwirksame Neugründung müsste eher auf die sozialpopulistische Karte setzen als auf die wertkonservative. Nicht zufällig ist der Anteil jener, die sich für eine Sarrazin-Partei aussprechen, unter den Linkspartei-Wählern am höchsten. Die Angst vor Überfremdung ist eher ein Thema der Unterklasse und des vom Absturz bedrohten Teils der Mittelschicht als des bürgerlich-konservativen Milieus. Eine gefestigte Kraft, die das Zeug zu einer sozialnationalistischen Sammlungsbewegung jenseits der extremen Rechten hätte, ist einstweilen jedoch nirgendwo auszumachen.
Zu bezweifeln ist schließlich, ob eine stramme Anti-Islam-Ausrichtung als ideologischer Kitt für eine »rechtspopulistische« Partei ausreichen würde. Wer den wachsenden Einfluss islamistischer Parolen – vor allem auf junge Muslime – als unterschätzte Bedrohung ansieht, ist damit nicht gleich »rechts«. Diese Entwicklung beunruhigt auch und gerade liberale Geister, die um die säkulare Demokratie fürchten.
Übrigens dürfte unter in Deutschland lebenden Juden die Sympathie für Sarrazin nicht geringer sein als bei der Gesamtheit der nichtmuslimischen Bevölkerung. Ist die unmittelbare Folge der partiellen Islamisierung muslimischer Communities doch ein bedrohlich anwachsender, aggressiver Israel- und Judenhass. Der freilich blieb in der überhitzten Sarrazin-Debatte auffälligerweise so gut wie unerwähnt.