Josef Schuster
»Rabbiner Leo Baeck hat sich in einer Zeit intensiv um den interreligiösen Dialog bemüht, als es diesen Begriff noch gar nicht gab und als es – vor allem – kaum Begegnungen zwischen Juden und Christen gab. Verständnis für die andere Religion zu wecken, sich mit ihren Schriften auseinanderzusetzen und nach einem Dialog auf Augenhöhe zu suchen – das entsprach am Beginn des 20. Jahrhunderts keinesfalls dem Mainstream. (...)
Einen festen eigenen Standpunkt bei gleichzeitiger Offenheit für andere Haltungen sowie einem hohen Respekt vor anderen Religionen – das zeichnet auch Professor Lammert aus.
Über viele Jahre hat er am Holocaust-Gedenktag im Bundestag gesprochen und dabei auch Wahrheiten ausgesprochen, die sicher nicht alle Bürger in diesem Land gerne hören wollten. Bei der Auswahl der Redner hat sich Professor Lammert nicht auf jüdische Überlebende beschränkt. Er hat auch andere Opfergruppen in den Blick genommen: zum Beispiel Sinti und Roma oder Euthanasie-Opfer.
Ich möchte heute Abend betonen: Das findet in der jüdischen Gemeinschaft ganz ausdrücklich Zustimmung. Wir wehren uns zwar, wenn die Singularität der Schoa in Frage gestellt wird. Wir lehnen auch Gleichsetzungen ab, die in der heutigen Zeit modern, aber deshalb nicht richtig geworden sind, wie etwa die These, was die gesellschaftliche Ausgrenzung angehe, seien die Muslime die heutigen Juden.
Aber wir lehnen es in keiner Weise ab – im Gegenteil –, dass auch anderer Menschen gedacht wird, die unter den Nationalsozialisten unendlich gelitten haben und ermordet wurden. (...)
Lieber Professor Lammert, heute würdigen wir Ihr Engagement für die Erinnerung an die Schoa und für die deutsch-israelische Freundschaft. Vor allem aber würdigen wir Ihr immerwährendes Eintreten für die Werte unseres Grundgesetzes. (...) Für Ihr Wirken möchte ich heute in Namen der jüdischen Gemeinschaft meinen tiefen Dank aussprechen!«
Navid Kermani
»Besser noch als an Festreden lässt sich die überragende Bedeutung, die der Versammlung von Volksvertretern in Norbert Lammerts politischem Denken zukommt, an seinem Alltag als Bundestagspräsident illustrieren. Die erste Ansprache, die ich selbst von ihm gehört habe (...), war keine ganz gewöhnliche Ansprache, kurz zwar, gerade mal zehn Minuten lang, aber immerhin eröffnete sie eine Bundesversammlung. (...)
Das Ergebnis der Bundesversammlung stand schließlich schon fest, die Mehrheitsverhältnisse schienen klar. (...) Aber dann, einen Satz später, aus dem Handgelenk geschossen, weist Norbert Lammert auf das ›freie Mandat für die Mitglieder des Bundestages wie für die durch die Landtage gewählten Wahlmänner und Wahlfrauen‹ hin, ›die an Aufträge und Weisungen nicht gebunden sind‹. Stille im Reichstag, selbst die Abgeordneten der Opposition sind verblüfft. Mit einem einzigen Satz hatte Lammert das Selbstverständliche genau in dem Augenblick ausgesprochen, als die Mehrheit nun wirklich nicht daran erinnert werden wollte. (...)
Norbert Lammert steht dafür, dass das doppelte Erbe von Widerstand und Scham in der Bundesrepublik auch von Christdemokraten vertreten und heute vom gesamten Parlament anerkannt wird – mit der Einschränkung freilich, dass mit der Konstituierung des 19. Bundestags eine Fraktion am rechten Rand des Plenums hinzugekommen ist, die mit der bundesdeutschen Erinnerungskultur nichts zu tun haben will.
Deutschland soll, so heißt es dort, aber auch immer öfter in der Mitte der Gesellschaft, Deutschland soll endlich ein normales Land werden. Allein, es kann kein normales Land sein, das sechs Millionen Juden umgebracht hat. (...) Wenn etwas die Bundesrepublik in den letzten 60 Jahren stark gemacht hat, lebendig und lebenswert, wenn etwas die Deutschen in die Gemeinschaft der Völker zurückgeführt hat und auf Anerkennung, sogar Bewunderung gestoßen ist, dann gerade, dass auf diesem Boden niemals mehr vergessen wird.«
Norbert Lammert
»Heute ist die jüdische Gemeinschaft in Deutschland die drittgrößte in Europa. Das, was sich in den Jahrzehnten nach der entsetzlichsten Periode der deutschen Geschichte in der zweiten deutschen Demokratie entwickelt hat, ist auch und gerade mit Blick auf die Wiederherstellung jüdischen Lebens in Deutschland eine im wörtlichen wie im übertragenen Sinne wundersamsten Erfahrungen in der Geschichte der Menschheit.
Und das gilt sowohl für das jüdische Leben in Deutschland wie für das Verhältnis zwischen dem neuen deutschen Staat und dem Staat Israel. (...) Der inzwischen verstorbene israelische Staatspräsident Schimon Peres hat gelegentlich daran erinnert, dass im jungen israelischen Staat ›die Auffassung überwog, dass der Bruch mit Deutschland endgültig und ewig sein müsse‹. (...) Deshalb sind die jährlichen Gedenkstunden des Deutschen Bundestages noch wichtiger als die regelmäßige Verleihung des Leo-Baeck-Preises. (...)
In einer sehr aktuellen Meinungsumfrage aus dem Dezember des vergangenen Jahres wird deutlich, dass mehr als zwei Drittel der befragten Deutschen den Eindruck haben, dass Antisemitismus in den vergangenen Jahren zugenommen hat. (...) Wir akzeptieren Antisemitismus in Deutschland nicht, ganz gleichgültig, ob er einheimisch oder zugewandert ist.
Ich bedanke mich herzlich für eine Auszeichnung, die ich als Person nicht verdiene, aber viele bekannte und noch mehr unbekannte Menschen in unserem Land, die ich als Parlamentarier viele Jahre vertreten durfte. Zu rechtfertigen ist diese Auszeichnung nur stellvertretend für meine Vorgänger und Nachfolger, die alle diese Orientierung miteinander teilen. In diesem Sinn nehme ich sie gerne an.«