Das Rauchen hat er sich in der Armee angewöhnt. Samuel, der eigentlich anders heißt, zieht an einer Zigarette. »Gauloises«, die blauen. Während seines Militärdienstes in Israel war »Noblesse« seine bevorzugte Marke. Das grüne Softpack mit dem kleinen weißen Buchstaben »Lamed« im Logo hat in Israel Legendenstatus. Mehr Nikotin für den Schekel gibt es nicht. Ideal für Soldaten.
Samuel steckt sich noch eine an. Der große Mann mit raspelkurzen Haaren und dichtem Vollbart ist angespannt. Gleich geht es hoch in seine Wohnung, irgendwo in Frankfurt am Main, gleich wird er erzählen. »Ich rauche mehr, seit unser Gespräch bevorsteht«, sagt er.
Doch er will reden. Über seine drei Jahre Dienstzeit bei den Streitkräften des jüdischen Staates, der IDF. Über seinen Entschluss, nach dem 7. Oktober 2023 nach Israel zu gehen, um zu kämpfen. Über das, was er dort gesehen hat.
»Wach auf, es ist Krieg«, sagte seine Freundin
Es war ein Samstag, und er hatte geglaubt, ausschlafen zu können. »Wach auf, es ist Krieg«, sagte Samuels Freundin. »Darüber macht man keine Witze«, war seine Antwort. Doch es war kein Witz. Auf seinem Handy konnte er es sehen. Videos von weißen Pick-up-Trucks mitten in Sderot. Terroristen erschießen Menschen auf der Straße. Videos von überrannten Militärbasen, von getöteten Soldaten.
Das Undenkbare war eingetreten: Die Hamas hatte den Grenzzaun zu Gaza überwunden und ganze Orte auf der israelischen Seite eingenommen. »Es war einfach unfassbar«, sagt er heute, zehn Monate später.
Wann stand für ihn fest, dass er nach Israel fliegt? »Sofort.«
Samuel versuchte, seine Einheit zu erreichen, doch niemand ging ans Telefon, die Leitungen tot oder überlastet. Stunden des Wartens. Irgendwann nahm jemand in Israel den Hörer ab. »Was machst du noch in Deutschland?«, wurde am anderen Ende gefragt. »Los, komm rüber!« Mehr hatte er nicht hören wollen. Am nächsten Tag würde es einen Flug nach Tel Aviv geben, den müsse er nehmen.
Samuel packte zusammen, was er an Ausrüstung zu Hause hatte. Seine Uniform, seine Stiefel. Bis zum Abflug waren es noch einige Stunden. »Das war schon eine komische Nacht«, erzählt er. Seine Freundin und er machten kein Auge zu. Sie hatte Angst. Am nächsten Morgen am Flughafen fragte er sie, ob sie ihn heiraten wolle. Sie sagte Ja.
Schon als Kind war er sich sicher, dass er einmal zur israelischen Armee gehen würde.
Am Sonntag, den 8. Oktober 2023, war Samuel in Tel Aviv. Der Flughafen war voll von Soldaten, die wie er aus dem Ausland angereist waren. Samuel wusste nicht, wohin er sollte, niemand hier konnte es ihm sagen. »Ich kam mir vor wie bestellt und nicht abgeholt.« Er fand heraus, dass ein Teil seiner Einheit schon ausgerückt war. Richtung Süden, an die Grenze zum Gazastreifen. Ein Kamerad nahm Samuel in seinem Privatauto mit.
Wo genau er mit seiner Einheit stationiert war, will Samuel nicht verraten. Nur so viel: Sie waren in einem der ersten Kibbuzim im Südwesten des Landes, die nicht von der Hamas überrannt worden waren. Dort fehlte es an so gut wie allem. Samuel zählt auf: »Wir hatten nicht genug Waffen und nicht genug Munition. Wir hatten nicht genug Schutzwesten, ballistische Helme. Nachtsichtgeräte haben uns gefehlt. Knieschoner hatten wir auch keine und nicht einmal ausreichend gutes Schuhwerk.«
Währenddessen befanden sich immer noch Terroristen auf israelischem Gebiet. Irgendwo in der Nähe von Samuel und seinen Kameraden mussten noch welche sein. Doch wo? »Das war ein einziges Chaos da unten«, erinnert sich Samuel.
Durcheinander, Wirrwarr – in Israel sagt man »Balagan«: Wenn der Bus schon wieder nicht kommt, wenn es wie üblich Streit beim Familientreffen gibt, wenn zum x-ten Mal Neuwahlen ausgerufen werden. Doch die IDF sollte eigentlich für Disziplin und Ordnung stehen. Samuel war schockiert vom Zustand der israelischen Streitkräfte. Er erkannte die Armee kaum wieder, bei der er sich vor zehn Jahren verpflichtet hatte.
Seine jüdische Mutter hat ihm den Zionismus in die Wiege gelegt
Schon als Kind war er sich sicher, dass er einmal zur IDF gehen würde. Seine jüdische Mutter hatte Samuel den Zionismus in die Wiege gelegt. Sie hatte in Israel gelebt und in den USA. Samuels Vater wegen zog es sie zurück in ihr Geburtsland, in eine mittelgroße Stadt in Rheinland-Pfalz. Hier wuchs Samuel auf.
Juden in Deutschland – »eine obskure Minderheit«, sagt er. Zum dauernden Bittstellertum verdammt. »Immer müssen wir bei Politik und Verwaltung vorsprechen: ›Hallo, wir sind hier und wir sind bedroht‹.« Samuel nennt das »Lobbyismus«, und das Letzte, was er sein wollte, war ein Lobbyist.
In seiner Klasse, in der Samuel der einzige Jude war, wusste niemand von seinem Entschluss. Direkt nach dem Abitur, mit 19 Jahren, ging er nach Israel. Für einen wie ihn gibt es dort die Bezeichnung »Chayal Boded«, ein »einsamer Soldat« ohne nahe Verwandtschaft im Land.
Beim Militär wurde er auf Herz und Nieren geprüft. Ein medizinischer Test, ein psychologischer Test, ein Sprachtest, ein Intelligenztest. Samuels Ergebnisse müssen gut gewesen sein. »Ich bekam eine Einladung für das Auswahlverfahren der Spezialeinheiten«, erzählt er. In dem Brief stand, er müsse nach Rischon LeZion südlich von Tel Aviv kommen.
»Jemand wie dich nennt man hier einen ›Freyer‹«, sagte ihm sein Sitznachbar, ein gebürtiger Israeli.
Am Bahnhof wurden er und die anderen Anwärter mit Bussen abgeholt. Samuels Hebräisch war bereits gut, sein Akzent aber hörbar. »Jemand wie dich nennt man hier einen ›Freyer‹«, sagte ihm sein Sitznachbar, ein gebürtiger Israeli. »Freyer« ist Jiddisch für Trottel, jemand, der sich leicht übervorteilen lässt. »Das könnte lustig werden«, dachte sich Samuel.
Als er aus dem Bus stieg, standen am Straßenrand Krankenwagen bereit. Die berüchtigte Aufnahmeprüfung der Militärelite ist so hart, dass dabei Rekruten schon gestorben sein sollen. In Samuels Erinnerung bestand die zweitägige Tortur vor allem aus endlosem Rennen. Immer und immer wieder durch den feinen Sand einer hohen Düne, hin und zurück, hoch und runter. »Und wenn du völlig im Arsch bist, sagt der Ausbilder: ›So, jetzt seid ihr aufgewärmt.‹« Samuel gehörte zu denjenigen, die es bis zum Ende schafften. Zum Lohn bekam er ein Schulterklopfen. Für die Spezialkräfte hatte es nicht gereicht.
Doch einige Zeit später erhielt Samuel einen Anruf. Ein Soldat nannte ihm einen Ort und eine Uhrzeit, mehr nicht. Über Details dessen, was dann geschah, darf Samuel nicht sprechen.
Stattdessen zeigt er auf ein Regal in seinem Wohnzimmer. »Siehst du die ›Kumta‹?«, fragt er. Dort liegt ein Barett, die typische Kopfbedeckung der IDF. Es ist moosgrün. »Das ist die Farbe des Militärgeheimdienstes.« Direkt dahinter hängt eine kleine Flagge der libanesischen Terrororganisation Hisbollah: eine grüne Kalaschnikow auf gelbem Grund. Wie ist Samuel an die gekommen? »Sagen wir mal so: Die findet man nicht weit hinter der Grenze.« Zu den libanesischen Pfund-Scheinen, die direkt darunterliegen, will Samuel aber lieber schweigen – so, wie zum gesamten Rest seiner drei Jahre beim Geheimdienst. Einen Satz hört man von ihm oft: »Mehr darf ich nicht sagen.«
Seine Erfahrungen sind Welten von denen durchschnittlicher deutscher Studenten entfernt
Eigentlich wollte Samuel nach seiner Dienstzeit nicht zurück nach Deutschland. Schon wieder ein Jude sein, der sich nicht selbst wehren kann, der auf den guten Willen der Mehrheit angewiesen ist. Doch um in Israel an einer Universität angenommen zu werden, hätte er dort sein Abitur wiederholen müssen. Für den zu diesem Zeitpunkt 23-Jährigen kam das nicht infrage. Also zog er für das Studium nach Frankfurt am Main.
Mit den meisten seiner Kommilitonen wurde er nie so richtig warm. Samuel war nicht nur älter als sie. Seine Erfahrungen waren Welten von denen durchschnittlicher deutscher Abiturienten entfernt. Wenn er heute sieht, mit welchen Parolen an seiner Universität gegen Israel agitiert wird, kann er nur den Kopf schütteln. »Die schreien irgendwelche Sachen heraus und sprechen von angeblichen Gräueltaten Israels.« Samuel war vor Ort, ist Augenzeuge: »Dann weiß man eben, dass es anders ist.«
Nur unter der Bedingung der Anonymität war Samuel bereit, seine Geschichte zu erzählen.
Die moralische Integrität der IDF steht für ihn außer Frage. »Terrorunterstützer« nennt er die israelfeindlichen Aktivisten. Nicht wenige seiner Kommilitonen glauben, dass Israel in Gaza einen Genozid begeht. »Wenn die rausfinden, wer ich bin, ist es hier nicht mehr sicher für mich.« Nur unter der Bedingung der Anonymität war er bereit, seine Geschichte zu erzählen.
»Sorry, ich brauche gerade mal eine Zigarette.«
Samuel ist sich bewusst, welches Thema als Nächstes dran sein wird. Ein paar Minuten will er es noch hinauszögern. Er steht am Küchenfenster und raucht. Eine Zigarette und eine zweite. Dann ist er so weit.
Samuel ringt um Worte, muss mehrmals ansetzen
Samuel kam mit seiner Einheit auf die Route 232, als die schwersten Kämpfe schon vorbei waren. Die Nationalstraße verbindet die Kleinstadt Sderot mit weiteren Orten rund um den Gazastreifen. Am 7. Oktober wurde sie für viele zur Todesfalle. Die Hamas-Terroristen lauerten hier ihren Opfern auf.
»So schnell konnte das alles gar nicht geräumt werden«, erzählt Samuel. Die Route 232 war gesäumt von verbrannten Autos, Hunderte Menschen hatten dort ihren Tod gefunden. Samuel ringt um Worte, muss mehrmals ansetzen. »Es lagen dort Leichen rum«, sagt er schließlich. Jede Silbe muss er seinem Körper abtrotzen. »Man hat noch Teile von Menschen gefunden.« War er auch an Kämpfen beteiligt? »Man hat den einen oder anderen Schuss abgegeben.«
Statt »ich« sagt Samuel »man«. Am liebsten würde er all das ganz weit weg von sich schieben. In diesem Moment ist es ihm deutlich anzumerken: Er kann nicht mehr weitererzählen.
Ihm fällt es leichter, über andere zu reden. Also berichtet er vom Schicksal seiner Kameraden. Von einem, dessen Großeltern am 7. Oktober in ihrem Haus verbrannt wurden, von einem anderen aus dem Kibbuz Be’eri, wo ganze Familien ausgelöscht wurden. In dem Ort sei es danach ganz still gewesen, habe ihm der Soldat erzählt. Gehört habe man nur das Schreien von Kühen, die von niemandem mehr gemolken wurden.
Nach einer Woche in der Grenzregion zu Gaza wurden Samuel und seine Kameraden von einer Einheit abgelöst, die deutlich besser ausgerüstet war. Samuel kam für eine Nacht bei einem Freund unter und konnte sich einmal richtig ausschlafen, bevor er an die Grenze zum Libanon geschickt werden sollte. Doch so weit kam es nie.
Samuel versucht, nicht ständig an den Krieg zu denken. Es klappt schlecht.
In seiner engsten Familie gab es einen Todesfall. »Du nimmst jetzt deinen Kram, fliegst nach Deutschland und kümmerst dich um die Familie«, sagte sein Offizier am Telefon. Kommando zurück, nach nur wenigen Tagen im Einsatz.
»Ich konnte nichts mehr tun, nur noch schlafen und essen«, beschreibt er die Tage und Wochen nach seiner Rückkehr. Er brauchte lange, um zu begreifen, was er durchgemacht hatte.
Samuel versucht, nicht ständig an den Krieg zu denken. Es klappt schlecht.
Während seine Kameraden weiter kämpfen und eine Ausweitung des Konflikts permanent droht, bewältigt er in Frankfurt seinen Alltag. Er geht arbeiten, er geht studieren, doch an eine Zukunft in dieser Stadt und diesem Land glaubt er nicht mehr so recht. Samuel bevorzugt die Heimat, die er selbst verteidigen kann. »Aber man hat sich hier nun mal ein Leben aufgebaut«, sagt er und benutzt erneut »man« statt »ich«. Von Deutschland hat sich Samuel schon so gut wie verabschiedet.
Will er wieder zurück nach Israel, um zu kämpfen? »Derzeit braucht man mich dort nicht.« Und wenn man ihn bräuchte? »Dann würde ich gehen.«