Meinung

Ein deutsches Problem

Sommer 1990, Dorffest in Mühlheim am Main, einer Kleinstadt bei Frankfurt. Mein Vater und seine Freunde treffen sich, um ausgelassen zu feiern. Gegen Mitternacht grölt eine große Anzahl von Frauen und Männern jedes Alters die erste Strophe des Deutschlandliedes und skandiert: »Heil Hitler!« Mein Vater wehrt sich verbal, es kommt zu einer Hetzjagd durch die idyllische Kleinstadt.

Frühherbst 2015, ein stickiger Klassenraum, wieder in Mühlheim. Die letzten beiden Stunden Ethik im örtlichen Gymnasium haben begonnen. Wieder einmal steht die NS-Zeit auf dem Lehrplan, diesmal: Eichmann und die Strafverfolgung der Nazis nach dem Krieg. Im Oberstufenkurs wird heftig diskutiert: Eine Schülerin, Deutsche, beschwert sich, Israel habe nicht das Recht gehabt, Eichmann zu ermorden.

geschichte Ein anderer Schüler, ebenfalls Deutscher, wirft in den Raum, die Nazi-Prozesse seien eine pure PR-Aktion gewesen; ein weiterer bezeichnet Eichmann als Opfer der Zeit und des Regimes. Er habe nichts dafür gekonnt – »wie die meisten damals«. Gar sei »die Geschichte von den Siegermächten geschrieben« worden, das wisse man ja bekanntlich. Ein anderer Schüler verlässt den Raum. Leise, sichtlich verletzt und peinlich berührt von den Zitaten. Der Schüler war ich, Moses Bonifer, ein deutscher Jude im letzten Schuljahr.

Die Beispiele zeigen: Nicht erst Zuwanderer bringen Antisemitismus mit. Vielmehr sind antisemitische Ressentiments tief in der deutschen Bevölkerung verwurzelt. Das liegt zum einen an der Generation, die nach dem Krieg geschwiegen hat. Zum anderen gab die deutsche Justiz diesen Personen damals die Möglichkeit, straffrei zu schweigen. Heute verurteilt man die alten Nazis – viel zu spät, denn sie durften bis ins hohe Alter ein gutes Leben führen. Hatten und haben »die Deutschen« überhaupt echtes Interesse daran, Antisemitismus effektiv zu bekämpfen? Ich denke, nein.

boykott In diesem Land boykottieren BDS-Anhänger wieder die Waren von Juden aus Israel. Man diskutiert medienwirksam über das Verbot von Schächten und Beschneidung, zwei Grundsätze der jüdischen Religion. Ein AfD-Abgeordneter macht »die Juden« als inneren Feind des christlichen Abendlandes aus, während andere AfDler das Märchen vom christlich-jüdischen Abendland weiterhin hochhalten, um gegen Flüchtlinge zu hetzen.

Antisemitismus ist in der deutschen Gesellschaft nicht erst neu entstanden oder gar von Migranten importiert worden: Er war schon immer da.

Der Autor war bis Ende 2014 Schulsprecher in Offenbach.

Würdigung

Argentiniens Präsident Milei erhält »jüdischen Nobelpreis«

Der ultraliberale Staatschef gilt als enger Verbündeter Israels und hat großes Interesse am Judentum. Das Preisgeld in Höhe von einer Million Dollar will er für den Kampf gegen Antisemitismus spenden

von Denis Düttmann  14.01.2025

Berlin

Vereinigung fordert Ausschluss der AfD bei Holocaust-Gedenken

Die demokratische Einladungspraxis, alle im Parlament vertretenen Parteien einzubeziehen, sei für die NS-Opfer und ihre Nachkommen und für viele demokratische Bürger nicht mehr tragbar

 14.01.2025

New York

46 Prozent aller Erwachsenen auf der Welt haben antisemitische Ansichten

Die Anti-Defamation League hat 58.000 Menschen in 103 Ländern befragt

 14.01.2025

NRW

NRW-Leitlinien für zeitgemäßes Bild des Judentums in der Schule

Mit Büchern gegen Antisemitismus: NRW-Bildungsministerin Feller hat zwölf Leitlinien für die Darstellung des Judentums in der Schule vorgestellt. Denn Bildungsmedien seien ein Schlüssel zur Vermittlung von Werten

von Raphael Schlimbach  14.01.2025

Faktencheck

Hitler war kein Kommunist

AfD-Chefin Weidel bezeichnet den nationalsozialistischen Diktator als »Kommunisten«. Diese These wird von wissenschaftlicher Seite abgelehnt

 14.01.2025

Berlin

Wegen Gaza-Krieg: Syrer beschädigt erneut Gebäude im Regierungsviertel

Erst das Innenministerium, dann der Amtssitz des Bundeskanzlers: Zweimal binnen weniger Tage fasst die Polizei in Berlin einen Mann, der wegen des Gaza-Kriegs wütet

 14.01.2025

Studie

Frauen und jüdischer Widerstand bei Schulnamen unterrepräsentiert

Welche Persönlichkeiten prägen die Namen deutscher Schulen? Eine Studie zeigt: Pädagogen spielen eine große Rolle. Frauen und Juden eher weniger

 14.01.2025

Debatte

»Zur freien Rede gehört auch, die Argumente zu hören, die man für falsch hält«

In einem Meinungsstück in der »Welt« machte Elon Musk Wahlwerbung für die AfD. Jetzt meldet sich der Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner zu Wort

von Anna Ringle  13.01.2025

7. Oktober

Einigung auf Geisel-Deal zum Greifen nahe 

Ein Drei-Stufen-Plan sieht Medien zufolge die Freilassung von Geiseln sowie palästinensischen Häftlingen vor. Das Weiße Haus gibt sich optimistisch, dass bald ein Deal stehen könnte

von Julia Naue  13.01.2025 Aktualisiert