Der Mann läuft mit erhobenen Armen durch einen Kugelhagel. Er wird getroffen und fällt. Im Grenzgraben zwischen Ost und West in der Nähe von Wolfsburg bleibt er liegen. Der Dortmunder Journalist Kurt Lichtenstein war am 12. Oktober 1961 der erste Tote an innerdeutschen Grenze von der DDR zu Westdeutschland. Selbst 60 Jahre später bleiben Fragen zu dem Fall offen.
Lichtenstein war Jude und Ex-Kommunist. 1911 in eine jüdische Familie geboren, kämpfte er während des Spanischen Bürgerkriegs von 1936 bis 1939 an der Seite von Kommunisten. Nach dem Zweiten Weltkrieg zog er für die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) in den Düsseldorfer Landtag ein. Doch die Parteispitze zweifelte an seiner Loyalität. Er wurde als »Verräter« ausgeschlossen.
chefreporter Anfang Oktober 1961 macht sich Lichtenstein auf den Weg. Er ist mittlerweile SPD-Mitglied und Chefreporter der »Westfälischen Rundschau«. Der Journalist will entlang der 1381 Kilometer langen Grenze von Nord nach Süd fahren und darüber berichten.
Laut Aussage seiner Frau Gertrud war die Reise zwei Monate nach dem Beginn des Mauerbaus in Berlin und der hermetischen Abriegelung der Demarkationslinie zwischen den beiden deutschen Staaten Lichtensteins »persönlicher Wunsch«. Er wollte eine umfangreiche Reportage über das Leben an und mit der Grenze, über auseinandergerissen Dörfer und Familien, über die Volkspolizei, die »Nationale Volksarmee« der DDR und den Bundesgrenzschutz schreiben.
Der mittlerweile verstorbene Lichtenstein-Biograf Rainer Zunder hat anhand von Protokollen rekonstruiert, was zu dieser Zeit geschah. Er war der Ansicht, dass Lichtenstein möglicherweise auf Befehl erschossen wurde.
bedrohung Lichtenstein habe keine Ahnung von einer möglichen Bedrohung gehabt, schreibt Zunder. Er habe diese Reise aufgrund seiner eigenen Erfahrungen machen wollen. »Er wollte wissen, was die Teilung mit einem Menschen macht.« Das habe er als seine journalistische Pflicht betrachtet.
Am vierten Tag seiner Reise gelangt Lichtenstein in das niedersächsische Dorf Zicherie. Das sogenannte Doppeldorf war bis zur Teilung mit dem ostdeutschen Ort Böckwitz verbunden. Die Grenze zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt verläuft auch heute noch zwischen beiden Dörfern. Lichtenstein notiert in seinen Spiralblock: »Straßen und Bahnen sind zerschnitten, Deutschland wird zerstückelt. Sie bewachen ihr eigenes KZ.«
An einer Straße außerhalb des Dorfs entdeckt der Journalist eine Gruppe Arbeiter auf dem Feld jenseits der Grenze. Er hält, steigt aus und läuft über den zehn Meter breiten Grenzstreifen aus geharkter Erde. Noch gibt es keine Minenfelder und Metallgitterzäune.
grenzbeamte Die beiden DDR-Grenzbeamten am Waldrand bemerkt Lichtenstein erst, als die Landarbeiter ihm etwas zurufen. Mit erhobenen Armen läuft er zurück in Richtung seines Wagens. Schüsse fallen und treffen ihn an der Hüfte und am Bauch. Auch sein Auto auf der Westseite wird getroffen. Laut damaligem Befehl hätten die Beamten eigentlich nicht so weit schießen dürfen.
Lichtenstein wird auf die ostdeutsche Seite gezogen. Immer wieder ruft er laut Zeugenangaben blutend um Hilfe. Am Feldrand muss er jedoch über eine Stunde auf einen Krankentransport warten. Der bringt ihn in ein nahe gelegenes Krankenhaus, wo er wenig später stirbt. Der 50-jährige Journalist hinterlässt seine Frau und zwei jugendliche Töchter. Er wird noch in Ostdeutschland eingeäschert. Die Urne wird der Witwe Wochen später per Post zugesandt.
Nach seinem Tod herrscht Entsetzen und Empörung. »Als er wie jeder gute Journalist die Wahrheit suchen wollte, wurde er getötet«, schreiben die Dortmunder »Ruhr Nachrichten«. Auch im Ausland wird über den Todesfall und die »blutende Zonengrenze« berichtet.
urteil Mehr als 30 Jahre später, 1997, beschäftigt sich die Staatsanwaltschaft Stendal mit dem Fall Kurt Lichtenstein. Im längsten Mauerschützen-Prozess mit 23 Verhandlungstagen kommt es zu einem Freispruch für die beiden Grenzbeamten und ihren Vorgesetzen. Lichtensteins Biograf Zunder hielt das Urteil für unverständlich.
Die Frage, ob Lichtenstein als »Verräter« des kommunistischen Regimes mutwillig hingerichtet wurde, sei vom Gericht ignoriert worden. Auch habe es eine Spur zu einem möglichen dritten Schützen gegeben, die nicht weiter verfolgt wurde.
Heute verbindet wieder eine Straße das ehemalige Doppeldorf Zicherie-Böckwitz. Immer noch gibt es den zehn Meter breiten geharkten Grenzstreifen, den ein Bauer des Dorfes pflegt. An der Straße, zwischen ein paar Birken, erinnern ein Kreuz und eine Gedenktafel an das Geschehene: »Ein Deutscher von Deutschen erschossen«.