Gideon Greif gilt in Israel als Historiker mit unbestrittenen Verdiensten. 1995 sorgte sein Standardwerk über das sogenannte »Sonderkommando« von jüdischen Häftlingen, die von der SS als Helfer zur Ermordung von Juden in Auschwitz-Birkenau zwangsrekrutiert worden waren, für großes internationales Aufsehen.
Ein paar Jahre später brachte Greif gemeinsam mit Laurence Weinbaum und Colin McPherson das Buch Die Jeckes – deutsche Juden in Israel erzählen heraus. Darin finden sich 66 Berichte von Einzelpersonen und Paaren über die Flucht aus Deutschland und den Neuanfang in Palästina.
Gideon Greif ist selbst Sohn von »Jeckes«. Geboren wurde er 1951 in Tel Aviv. Dort besuchte er später auch die Universität und legte einen Master in jüdischer Geschichte ab. Zwischen 1983 und 2009 arbeitete Greif als Redakteur, Pädagoge und Dozent an der International School for Holocaust Studies der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Darüber hinaus war er Gastdozent für Geschichte an den Universitäten von Haifa (Israel), Austin/Texas und Miami (USA). Seit 2009 ist er Mitarbeiter des Schem-Olam-Instituts in Israel.
VERSCHIEBUNG Für sein Lebenswerk sollte der Historiker eigentlich am 10. November im Namen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier von Deutschlands Botschafterin in Tel Aviv, Susanne Wasum-Rainer, mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet werden - zusammen mit der Schoa-Überlebenden und ehemaligen israelischen Politikerin Colette Avital. Doch heute wurde die Zeremonie kurzerhand verschoben - »aus unvorhergesehenen internen Gründen«, wie es in einer E-Mail der Protokollabteilung der Botschaft an die geladenen Gäste hieß.
Ob die Verschiebung in Zusammenhang mit kritischen Presseberichten über die Auszeichnung in bosnischen Zeitungen am Wochenende stand, war zunächst nicht klar. Dass eine solche Ehrung des israelischen Historikers vor allem in Bosnien-Herzegowina für Empörung sorgen würde, hatte man offenbar auf deutscher Seite nicht auf dem Schirm gehabt.
Doch Gideon Greif ist insbesondere auf dem Balkan seit einiger Zeit eine umstrittene Figur. Grund dafür ist seine Rolle als Vorsitzender einer 2019 von der nationalistischen Regierung der bosnischen Teilrepublik »Republika Srpska« eingesetzten, sogenannten »Unabhängigen internationalen Untersuchungskommission zum Leiden aller Menschen in der Region Srebrenica zwischen 1992 und 1995«, deren Titel in gewisser Weise bereits das Endergebnis vorwegnahm.
BERICHT Das zehn Mitglieder umfassende Gremium legte im Sommer seinen 1100-seitigen Abschlussbericht vor. Der kam zu dem (der serbischen Seite sehr gelegenen) Schluss, dass von einem Genozid an bosnischen Muslimen in Srebrenica keine Rede sein könne, unter anderem, weil sich unter den Opfern auch zahlreiche Serben befunden hätten.
Dem gegenüber sieht es das Internationale Jugoslawien-Tribunal der UN in Den Haag sowie eine Vielzahl von Experten als erwiesen an, dass in Srebrenica ein Völkermord verübt wurde. Und auch Frank-Walter Steinmeier war in einer Ansprache zum 25. Jahrestag des Massakers 2020 sehr deutlich: »Es war Völkermord.« Das Geschehen dort sei »Auftrag und Verantwortung für an uns alle, eine Zukunft des Miteinanders zu gestalten, frei von Hass und frei von Gewalt«, so der Bundespräsident.
KRITIK Für den Bericht seiner Kommission erntete Gideon Greif scharfe Kritik. Schlicht »peinlich für die Wissenschaft« sei der, wetterte der Justiziar und stellvertretende Geschäftsführer des Jüdischen Weltkongresses, Menachem Rosensaft. «Als Sohn von zwei Überlebenden von Auschwitz und Bergen-Belsen […] bin ich besonders entsetzt über die schamlose Manipulation der Wahrheit in diesem Bericht«, schrieb der Jurist und Historiker im Juli in einem Beitrag für »Just Security«.
Die Erkenntnisse der Greif-Kommission legitimierten nur einige längst diskreditiert Verharmloser des Srebrenica-Völkermords und ließen zahlreiche Erkenntnisse zu den Geschehnissen damals einfach unerwähnt. Der Abschlussbericht gehöre daher in den »Mülleimer der Geschichte«, so Rosensaft. Er demonstriere nur wieder, dass sich einige Personen zu »nützlichen Idioten« machten, welche sogar vor der Leugnung von Völkermord nicht zurückschreckten.
In zahlreichen Interviews verteidigte Greif die Arbeit der von ihm geführten Kommission und wies insbesondere Anwürfe zurück, sie sei in Wahrheit gar nicht unabhängig gewesen. Er sei für sein wissenschaftliches Vorgehen bekannt, und niemand könne ihn kaufen, sagte er in Zeitungsinterviews.
Doch Srebrenica ist nicht die einzige Kontroverse, die der 70-Jährige zuletzt mit umstrittenen Aussagen befeuert hat. Auch über das Konzentrations- und Vernichtungslager Jasenovac in Kroatien, in dem im Zweiten Weltkrieg von den mit Hitler-Deutschland verbündeten faschistischen Ustascha-Milizen Zehntausende von Juden ermordet wurden, hat Greif sich ausgelassen, und dabei Ansichten vertreten, die von anderen Historikern als übertrieben und einseitig abgelehnt werden.
JASENOVAC Dem portugiesischen Radiosender TSF sagte er vorvergangene Woche: »Ich hoffe, dass durch die Aufdeckung der Verbrechen des kroatischen Ustascha-Regimes mehr Menschen in der Welt erfahren, was Jasenovac war. Und wie das Verbrechen gegen das serbische Volk war, denn in den Augen der Ustascha waren sie die Hauptfeinde, nicht die Juden. Die Juden waren zweitrangig, und die Verbrechen, die am serbischen Volk begangen wurden, sind enorm, und eines meiner Ziele ist es, dies zu veröffentlichen, aufzudecken und darüber zu sprechen. Es ist an der Zeit, dies zu tun.«
Doch Greif sieht sich auch hier Vorwürfen ausgesetzt. Er sei in Wahrheit gar kein Experte für Geschehnisse auf dem Balkan, weder für die Zeit des Zweiten Weltkriegs noch für die danach, und er spreche auch keine der Sprachen der Länder des Balkans, sagen Kritiker auch in Israel hinter vorgehaltener Hand.
Doch auch das weist der Historiker weit von sich: Seit er vor einigen Jahren eingeladen worden sei, das serbische Außenministerium in Sachen Erinnerungskultur zu beraten, habe er sich mit der Thematik befasst. »Jetzt bin ich auch ein Experte für die Verbrechen der kroatischen Ustascha. Und ich habe das Gefühl, dass ich eine Lücke, ein Vakuum fülle, das es früher gab und das jetzt nicht mehr besteht«, sagte Greif dem Sender TSF.
ERNEUTE PRÜFUNG Der Leiter des bosnischen Instituts für Genozidforschung, Emir Ramic, kritisierte dagegen die deutsche Entscheidung, Greif das Bundesverdienstkreuz zu verleihen. An den Bundespräsidenten gerichtet sagte Ramic, das sei »unmenschlich«. Deutschland entwürdige so die Vereinten Nationen und das internationale Recht. Die »Belohnung eines Völkermordleugners« sei ein »Verbrechen« sagte er weiter und forderte die Rücknahme der Entscheidung. »Das ist dasselbe, wie wenn jemandem, der den Holocaust leugnet, eine Medaille verliehen wird«, so Ramic in einem Schreiben an Steinmeier.
Nicht nur in Bosnien, auch in Israel sehen viele die Entscheidung kritisch und wundern sich, dass die Bundesrepublik ausgerechnet Gideon Greif mit dem höchsten deutschen Verdienstorden bedenken will. Ob und wann es dazu kommt, ist aber vorerst offen.
Laut einer Meldung der Deutschen-Presseagentur vom Montagnachmittag will das Bundespräsidialamt sich die Sache nochmals genauer ansehen. »Die Verleihung des Verdienstordens an den israelischen Historiker Gideon Greif wird in Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt derzeit einer neuerlichen Prüfung unterzogen«, hieß es dort. Weitere Einzelheiten wurden aber nicht bekannt.