Russland

Ehrlos mit neun Orden

Alexander sitzt auf einem Ledersofa im Atrium des jüdischen Zentrums »Shaarei Tzedek«. Interessiert verfolgt der kleine Mann mit den weißen Haaren und den dunklen Augen die Tanzdarbietung des Seniorennachmittags. Ab und zu wechselt er ein paar Worte mit seinem Sitznachbarn, winkt einer vorbeigehenden Bekannten zu. Alexander ist ein hochdekorierter Weltkriegsteilnehmer. Während der letzten beiden Kriegsjahre marschierte er in drei verschiedenen Regimentern mit. Er war an der Befreiung weiter Teile Weißrusslands und des Gebiets Königsberg beteiligt. Für seine Leistungen erhielt er von der Sowjet-Führung insgesamt neun Orden.

Doch trotz aller Ehrungen bleibt Alexander nach der heute geltenden russischen Gesetzgebung der offizielle Status des Kriegsveteranen vorenthalten. Grund: Alexander war noch nicht volljährig, als er in die Rote Armee aufgenommen wurde. Das Föderale Gesetz Nummer 5 definiert nicht eindeutig, ob minderjährige Kriegsteilnehmer den Veteranen zuzurechnen sind. Und so steht es im Ermessen der jeweils zuständigen regionalen Verwaltung, ob sie einem damals minderjährigen Kriegsteilnehmer den Status des Veteranen zuerkennt.

Rote Armee Betroffen sind unter anderem die ehemaligen Zöglinge von Militärschulen und die »Söhne des Regiments«, Waisenkinder, die die vorrückende Rote Armee aufnahm, Hilfsdienste leisten ließ und auch mit der Waffe in den Kampf schickte. Laut einer Schätzung des Museums »Junge Verteidiger der Heimat« der Stadt Kursk waren das auf dem gesamten Gebiet der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs rund 300.000 Kinder und Jugendliche. Auch Alexander war »Sohn des Regiments«: 1930 kam er im weißrussischen Gorki zur Welt, einer Kleinstadt im Gebiet Mogiljow, unweit der heutigen Grenze zu Russland. Unmittelbar nach Kriegsausbruch im Jahr 1941 wurde sein Vater eingezogen. »Damals war ich elf Jahre alt. Danach habe ich ihn nie mehr wiedergese- hen«, erzählt Alexander.

Es war an einem Septembermorgen im Jahr 1941, als die Mutter Alexander mit der einzigen Kuh auf die Weide gegenüber dem Elternhaus schickte. Wenig später sah der Junge von dort aus, wie drei Mannschaftswagen der deutschen Wehrmacht vorfuhren. Seine Großeltern, die Mutter und die fünf Geschwister wurden aus dem Haus getrieben und auf die Wagen verteilt. »Später am Tag habe ich aus der Entfernung die Erschießung beobachtet. 2.000 jüdische Einwohner von Gorki sind an diesem Septembertag ermordet worden«, erinnert sich der alte Mann. In das leere Elternhaus kehrte Alexander nicht zurück. Er floh in den Wald, lebte fast zwei Jahre bei einem Einsiedler. Gegen Kriegsende nahmen Soldaten der vorrückenden Roten Armee den 13-jährigen Jungen mit.

Statusfragen Für die Befreier Europas vom Nationalsozialismus sieht das »Föderale Gesetz über die Veteranen« heute zahlreiche Vergünstigungen vor: Sie erhalten eine höhere Rente als Gleichaltrige ohne Status. Der Staat zahlt den Veteranen die Wohnnebenkosten. Sie werden medizinisch versorgt. Kriegsinvaliden erhalten auf Staatskosten sogar eine neue Wohnung. Das Gesetz schafft die Rahmenbedingungen für ein »würdevolles Leben, für aktive Teilhabe, Ehre und Anerkennung in der Gesellschaft«, so heißt es in der Einleitung. Alexander winkt ab, als ob ihn das alles nicht interessiert. »Ich lebe mit meiner Frau in einer Zweiraum-Wohnung. Dreimal in der Woche gehe ich zum Tanztee auf der Freilichtbühne im Park Ostankino, das ist mein Hobby. Und so oft ich kann, bin ich hier im jüdischen Zentrum Shaarei Tzedek«, sagt er. »Ich bin zufrieden.«

Tatsächlich kann sich Alexander glücklich schätzen, dass er einer der 15.000 Menschen ist, die das jüdische Zentrum kostenfrei nutzen dürfen: Shaarei Tzedek hat eine Kantine, in der täglich Hunderte Mahlzeiten ausgegeben werden, der hochmoderne Krankenhaustrakt versorgt monatlich 2.000 bedürftige Patienten medizi- nisch. Außerdem gibt es ein umfangreiches Unterhaltungsprogramm – dazu gehören eigene Veranstaltungen wie der Seniorennachmittag und vergünstigte Ein- trittskarten für die städtischen Theaterbühnen. »Veteranen haben Anspruch auf alle unsere Leistungen. Und für uns ist Alexander ein Veteran«, sagt Hannah, die Leiterin des Zentrums. »Wir haben noch nie einen Kriegsteilnehmer zurückgewiesen oder gekränkt.«

Hoffnung Im jüdischen Zentrum bekommt Alexander Unterstützung und Anerkennung. Außerhalb versagen ihm die Gesetze die Vergünstigungen, die Kriegsveteranen zustehen. Ändern würde sich das erst durch eine Gesetzesergänzung, die auch den zu Kriegszeiten minderjährigen »Söhnen des Regiments« den Status des Veteranen zuerkennt. Im Mai dieses Jahres hat die russische Militär-Prokuratur eine entsprechende Änderung vorgeschlagen. Vielleicht wird sie ja tatsächlich umgesetzt. Und vielleicht erlebt das der mittlerweile 80-jährige Alexander noch. Doch sicher sagen kann das niemand.

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