Eine chassidische Weisheit besagt, dass das Zuhören ein größeres Vergehen als die Verbreitung übler Nachrede ist. Wie zum Tango braucht es auch hier zwei Personen. Und wie beim Tango führt auch immer einer. Bei der üblen Nachrede ist das der Zuhörer: Er (ver)führt nämlich den Redner dazu, überhaupt Übles zu reden, und begeht damit von beiden die größere Sünde. Bekanntlich ist die NSA ein großer Zuhörer. Aber weil sie nun mal ein Geheimdienst ist, hört sie im Verborgenen. Dennoch erweist sich die chassidische Weisheit als treffend: Die ganze Sünde liegt beim Hörer; der Abgehörte ist dabei völlig arglos. So gesehen, kann man der NSA mit ihren Abhöraktionen durchaus unmoralisches Verhalten vorwerfen.
werte Doch in westlichen Demokratien sollen Geheimdienste die Werte schützen, die Demokratien eben ausmachen. Nur wenn sie ohne einen Bezug zu einem höheren Wert abhören, begehen sie nach jüdischer Auffassung einen Götzendienst. Doch den höheren Wert gibt es: unsere Sicherheit, letztlich unser Leben.
Daher sollte das Unbehagen gegenüber der NSA mit gebotener Seriosität formuliert werden. Das empfindliche Gleichgewicht zwischen diesen Werten wird zerstört, wenn üble Nachrede ins Spiel kommt. »Andere ausschnüffeln und bloßstellen ist unchristlich«, sagt die frühere Bischöfin Margot Käßmann und legt nach: Spionage sei ein Verstoß gegen die Zehn Gebote. Geht’s vielleicht eine Nummer bescheidener?
unmoral Die Öffentlichkeit erwartet zu Recht, dass auch von theologischer Seite aus die Unmoral in Sachen NSA benannt und formuliert wird. Doch ein Schnellschuss wie der von Frau Käßmann ist da nicht nur kontraproduktiv, sondern auch theologisch schlampig. Mit den Zehn Geboten zu argumentieren, ist schweres theologisches Geschütz, denn es ist das wichtigste Dokument der Moral der Menschheit.
Dem Argument wird dadurch zwar Gewicht, aber keineswegs Wahrheit verliehen. Die Behauptung Käßmanns, hier liege eine falsche Aussage gegen den Nächsten vor, ist schlicht falsch: Die NSA macht keine Aussagen – sie hört ab. Daher lenkt Käßmann vom eigentlichen Problem ab, nämlich der Auswertung der Daten, die durch die Sammelwut erst entstehen. Es ist nicht nur fahrlässig, aus der Bibel einen Selbstbedienungsladen zu machen, es ist auch unmoralisch. Wer Moral fordert, aber dabei nicht moralisch argumentiert, betreibt Populismus – und üble Nachrede dazu. Solchen Stimmen Gehör zu verleihen, ist dann schlimmer als die üble Nachrede selbst.
Der Autor ist Rabbiner der Budge-Stiftung in Frankfurt/Main.