Wie stellt ihr euch einen Juden vor?» Mit dieser Frage eröffne ich meist den «jüdischen» Teil meiner interreligiösen Workshops an Berliner Oberschulen. Die Reaktionen sind verhalten, fast schüchtern. Nach einigem Herumdrucksen peinlich berührter junger Mädchen und Kommentaren wie «Die essen doch koscher», will ich aber auf den Punkt kommen: «So Freunde, Tacheles! Sagt einfach, was euch wirklich auf der Zunge liegt!»
Jetzt geht es los: «Geld, Holocaust, Rothschild, Kontrolle der Medien, lange Bärte, große Nasen, Sex durch ein Tuch mit Löchlein, Adolf Hitlers Oma war jüdisch, Illuminati, illegale Besatzung und Israel». Rumms! Es ist raus! Nach diesem für die Schüler selbst überraschend offenen Ausstoß an Meinungsbildern kehrt plötzlich wieder die gleiche peinliche Stille wie am Anfang ein, und eine große, deutlich in den Gesichtern vieler Schüler ablesbare Frage schwebt im Raum: «Habe ich gerade etwas Falsches gesagt?»
perspektiven Eine Frage, die aus mehreren Perspektiven betrachtet werden kann. Ist es faktisch falsch, was ich gesagt habe? Ist es vielleicht antisemitisch? Oder habe ich eigentlich recht, aber man darf so etwas trotzdem nicht öffentlich sagen? Aber die viel wichtigere Frage ist doch, wie diese größtenteils antisemitisch durchsetzten Klischees in die Köpfe junger Menschen kommen? Wie soll man damit umgehen?
Die größte Herausforderung bei Workshops wie diesen ist es, den Schülern jüdische Menschen als Menschen näherzubringen. Denn genau das scheint im Unterricht meist nicht zu geschehen. Zumeist endet die jüdische Geschichte an deutschen Schulen mit Ende des Zweiten Weltkriegs. Beinahe alles, was einem Jugendlichen heutzutage über das Judentum beigebracht wird, ist verbunden mit dem oder bezogen auf den Holocaust – oder wird vor dem Hintergrund des israelisch-palästinensischen Konflikts bewertet.
Der Jude – ein abstraktes Objekt, geschichtlich definiert durch den Holocaust und (wie wir es im Religionsunterricht gelernt haben) einen Glauben an seine eigene Auserwähltheit, der nun in einem eigenen Staat im fernen Orient das Sicherheitsgefüge des Nahen Ostens und der gesamten westlichen Zivilisation zu bedrohen scheint. Ungefähr so hat man an zumindest einer meiner ehemaligen Schulen versucht, mir «den Juden» zu erklären – und allzu lange ist das noch nicht her. Anstatt eine Kultur in ihrem ganzen Facettenreichtum zu betrachten, sprechen wir hierzulande leider nur vom jüdischen Opfer oder vom israelischen Aggressor.
schulbuchkommission Schon 1985 hat eine Schulbuchkommission festgestellt, dass bei der Darstellung des Nahostkonflikts die israelische Seite ganz klar zum Täter und die palästinensische zum Opfer stilisiert wird. Zudem wird Israel fast ausschließlich als Konfliktherd dargestellt. Vergangene Woche kam eine deutsch-israelische Kommission zu beinahe identischen Ergebnissen. Was hat sich also in der Zwischenzeit getan? Nicht viel, wie es scheint.
Wenn sich eine Veränderung erkennen lässt, dann womöglich die, dass ein aktives Verantwortungsbewusstsein nach dem Holocaust immer weiter ins Abseits rückt, wohingegen das Täterprofil Israels als «Besatzer» immer stärker geschärft wird. Nicht selten höre ich bei meiner Arbeit mit Jugendlichen Relativierungen des Holocaust, mit dem Argument der umgekehrten Rollenverteilung im aktuellen israelisch-palästinensischen Konflikt. Das schlägt sich auch im Alltag der Schüler nieder.
Das sich in deutschen Lehrmaterialien manifestierende Bild Israels führt nicht nur zu einer «Aber-ihr-macht-doch-das-Gleiche-in-Gaza»-Mentalität, sondern letztendlich auch dazu, dass hier der verbalen und physischen Gewalt gegenüber Juden und jüdischen Einrichtungen der Boden bereitet wird. Wird die Lage im Nahen Osten prekär, sehen sich jüdische Schüler oftmals gezwungen, die israelische Sicht zur aktuellen Situation erklären zu müssen – ob sie wollen oder nicht. Und selbst, wenn sie fundierte und stichhaltige Argumente präsentieren, so kann ein Mitschüler einfach das Schulbuch auf den Tisch legen und ihnen schwarz auf weiß zeigen, dass sie falsch liegen.
kritik Pauschale Kritik an Schulen, Pädagogen und ihren Unterrichtsmaterialien ist jedoch falsch. Immerhin setzen sich Bildungsinstitutionen nicht erst seit einem im Jahr 2008 gefällten Beschluss des Bundestags für eine Erweiterung der Lehrpläne zu den Themen jüdisches Leben, jüdische Geschichte und heutiges Israel ein. Bei allen Bemühungen sei dennoch die Frage erlaubt: Was läuft da schief?
Auch an unseren Schulen nimmt Antisemitismus wieder zu, «Jude» wird hörbar zum gängigen Schimpfwort auf Schulhöfen, jüdische Schüler werden mit der Politik der israelischen Regierung assoziiert, und Zöglinge deutscher Schulen laufen durch die Straßen unserer Städte und skandieren «Jude, Jude, feiges Schwein ...».
Es ist an der Zeit, diese Entwicklung endlich zur Kenntnis zu nehmen. Es ist an der Zeit, das Lehrmaterial zu deutsch-jüdischer Geschichte und Gegenwart sowie zu Israel und dem Nahostkonflikt zu ändern und Lehrer in diesen Themenbereichen gründlicher auszubilden. Und es ist an der Zeit, Juden als real existierende, greifbare und positiv sichtbare Teile unserer Gesellschaft zu betrachten, damit in Zukunft die Frage «Wie stellt ihr euch einen Juden vor?» nicht mehr gestellt werden muss.
Der Autor, Jahrgang 1989, ist Leiter des Jüdischen Studentenzentrums Berlin und Repräsentant der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.