In der Demokratischen Republik Kongo eskaliert der Konflikt zwischen der Armee und der M23-Miliz. Die Einnahme von Goma Ende Januar, einer Stadt mit rund zwei Millionen Einwohnern, stellt die bislang größte Entwicklung des Konflikts dar. Tausende sind geflüchtet, südafrikanische und UN-Soldaten wurden getötet. Während die Kritik an der M23 und an Ruanda dominiert, gibt es auch Stimmen, die durch den Vormarsch der M23 endlich Sicherheit und Teilhabe erwarten – da die Gruppe sich für den Schutz einer verfolgten kongolesischen Minderheit einsetzt und genozidale Milizen zurückschlägt.
Sicher ist: Der Konflikt belastet die Beziehungen zwischen Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo, die ihrem Nachbarn vorwirft, die Rebellen zu unterstützen. Ruanda weist diese Vorwürfe zurück und verweist auf seine eigenen Sicherheitsbedenken. Dabei ist insbesondere die Zusammenarbeit der kongolesischen Armee mit der FDLR – einer Gruppe, die von Tätern des Genozids an den Tutsi 1994 gegründet wurde, für Ruanda ein immenses Sicherheitsproblem
Herr Beloff, die Gruppe M23, hat vor kurzem Goma, die größte Stadt in Kongos Osten, nahe der ruandischen Grenze, eingenommen. Können Sie die Forderungen und Ziele der Gruppe näher erläutern?
Die M23 ist eine Rebellengruppe, die sich zum großen Teil aus Banymulenge zusammensetzt, also Menschen aus dem Kongo, deren Herkunft auf Ruanda und Süduganda zurückgeht und die Kinyarwanda sprechen, eine der Hauptsprachen in Ruanda. Die Gruppe ist aber sehr vielfältig und besteht letztlich aus unterschiedlichen Herkünften. Ihre zentrale Strategie und ihr klares Ziel besteht darin, die Banyaruanda-Minderheit im Kongo zu schützen, die sie als Opfer der Verfolgung durch das kongolesische Militär und seiner radikal-genozidale Verbündeten wie Mai Mai und die FDLR sehen. Dies hat dazu geführt, dass sie einen großen Teil der Nord-Kivu Region im Ost-Kongo erobert haben und nun auch die Region Süd-Kivu ins Visier nehmen.
Was erhoffen sich die M23 von diesen militärischen Geländegewinnen?
Ihr erklärtes strategisches Ziel ist die Schaffung einer Region im Osten des Kongo, in der sie mehr Mitspracherecht haben und die die Banyaruanda nach gescheiterten Verhandlungen, die es in der Vergangenheit mit der Regierung des Kongos in Kinshasa gegeben hat, schützen kann.
Sie sprechen von einem notwendigen Schutz der Banyaruanda. Es gibt immer wieder Berichte über gewalttätige Ausschreitungen und Lynchmorde gegen diese Gruppe in Teilen des Ostkongo. Welche Faktoren schüren diesen Hass?
In den letzten Jahren haben die gegen die Banyaruanda gerichteten Aktionen zugenommen, die Stimmung gegen sie hat sich verschärft. Dazu gehören auch körperliche Angriffe auf sie und ihre in der Region für viele Menschen essenziellen Viehbestände. Die Ursachen für die Anti-Banyaruanda-Bewegung sind vielschichtig, da sie bereits unter dem früheren Mobutu-Regime entstanden ist. Der gegenwärtige Hass beruht heute vielfach darauf, dass die Kinyarwanda sprechende Bevölkerung vom kongolesischen Regime unter Präsident Felix Tshisekedi zum Sündenbock gemacht wird, um politisches Chaos, anhaltende Korruption und Unterentwicklung zu erklären.
Können Sie den Konflikt in Kürze historisch einordnen?
Nach dem Ende des Völkermords in Ruanda, dem Genozid an den Tutsi, flohen rund 1,5 Millionen Menschen aus Ruanda in die Nachbarländer. Die Demokratische Republik Kongo, die damals noch Zaire hieß, nahm einen Großteil der für den Genozid Verantwortlichen auf. Das ehemalige Völkermordregime gruppierte sich im Nachbarland schnell neu und nutzte die Flüchtlingslager als militärische und politische Stützpunkte, um Ruanda anzugreifen. Ähnlich wie die Hamas den Gazastreifen und die Palästinenser als menschliche Schutzschilde benutzte, tat dies auch das Völkermordregime im Exil. Der frühere zairische Diktator Mobutu hoffte, dass diese große Bevölkerung ihm Unterstützung und Machterhalt verschaffen würde, aber es führte dazu, dass Ruanda zusammen mit einem halben Dutzend anderer Nationen in Zaire einmarschierte. Während die Militäroperation ursprünglich darauf abzielte die Überreste des Völkermordregimes zu vernichten, entwickelte sie sich zu einem zweiten Konflikt mit dem Ziel, Mobutu zu stürzen. Die Situation stabilisierte sich jedoch nie und führte zum Zweiten Kongokrieg. Seit den Kongokriegen bildeten die Überbleibsel der ruandischen Völkermordtruppen verschiedene Rebellengruppen, bis sie sich zur FDLR zusammenschlossen. Diese verübten kleinere Angriffe auf Ruanda, terrorisierten aber vor allem die Banyaruanda, die sie als verlängerten Arm der ruandischen Tutsi betrachteten.
In den meisten Medien und im UN-Sicherheitsrat wird die Einnahme von Goma durch die M23 als Katastrophe dargestellt. Die kongolesische Regierung in der tausende Kilometer entfernten Hauptstadt Kinshasa stellt die M23 als blutrünstige Miliz dar. Auf etlichen Videos ist jedoch zu sehen, wie die Einwohner von Goma die M23 bei ihrem Einmarsch begrüßen und feiern. Was können Sie uns über die Haltung der Menschen im Ostkongo gegenüber der M23 sagen?
Aufgrund der Konfliktgeschichte in der Region herrscht Skepsis gegenüber der M23. Wer weiß, ob sie ihre verkündeten freiheitlichen Prinzipien aufrechterhalten wird, wenn andere bewaffneten Gruppen dies alles schon so oft vor ihnen gesagt haben? Die jüngsten Videos und Gespräche, die ich mit Menschen aus Goma führe, deuten jedoch darauf hin, dass die Bevölkerung relativ aufgeschlossen ist und die M23 für effektiver hält als die frühere regionale Führung. Meine Informanten berichten mir, dass in Goma seit der Ankunft der M23 ein wachsendes Gefühl der Erleichterung herrscht. Nicht wenige setzen in die Rebellengruppe die Hoffnung, dass sich die von Armut, Krankheit, Menschenrechtsverletzungen und Korruption geprägte Situation verbessern wird. Viele sind auch einfach nur froh, dass die Kämpfe vorerst aufgehört haben.
Die UN-Friedensmission im Kongo MONUSCO verfügt über ein Budget von etwa 1 Milliarde Dollar pro Jahr, sieht sich aber mit dem Vorwurf konfrontiert, mit Gruppen wie der FDLR, zusammenzuarbeiten, deren Mitglieder am Genozid gegen die Tutsi in Ruanda 1994 beteiligt waren und noch heute dieselbe Ideologie vertreten. Wie beurteilen Sie die Rolle der UN in der Region?
Die MONUSCO hat bei der Erreichung eines wie auch immer gearteten Friedens im Osten Kongos schlicht versagt. Schlimmer noch, sie hat einen Status quo geschaffen, der nur Instabilität, das Aufkommen von Gang-Strukturen und damit einen ständig schwelenden Konflikt begünstigt. Die sogenannten Friedenstruppen ignorieren einfach die Grundprinzipien der Militärstrategie, indem sie nicht zulässt, dass der Konflikt tatsächlich beendet wird, sondern dass er weitergeht. Die MONUSCO wird, wie viele andere internationale Organisationen auch, für ihre Handlungen, wie etwa die zumindest indirekte Zusammenarbeit mit der FDLR und sogar den Handel mit illegalen Mineralien, kaum hinterfragt.
UN-Generalsekretär António Guterres verurteilte den Vormarsch der M23 auf Goma »aufs Schärfste« und forderte Ruanda ausdrücklich auf, sich aus dem Gebiet des Kongo zurückzuziehen. Wie genau ist Ruanda in diesen Konflikt verwickelt und was sind seine strategischen Ziele?
Guterres folgt vielen anderen UN-Generalsekretären, indem er wenig von Konflikten versteht und ein Sprachrohr für spezielle Interessengruppen ist. Er ist derselbe Mann, der Israels Reaktion auf das Pogrom vom 7. Oktober verurteilt hat, ohne dabei von den Geiseln zu sprechen. Wie im Falle Israels wird Guterres niemals die eigentlichen Verursacher des Chaos in der Demokratischen Republik Kongo anprangern, die in Kinshasa sitzen. Seit Januar 2023 war ich mehrmals an der Grenze und habe mich unter anderem frei mit den Rwanda Defence Forces austauschen können. Ich habe schlicht kaum Anhaltspunkte dafür, dass sie eine Unterstützung leisten, die die Vehemenz der Anschuldigungen rechtfertigt. Die ruandische Regierung hat wenig davon, die M23 zu unterstützen. Jede Unterstützung wird zu internationaler Kritik und einem möglichen Rückzug der Hilfe führen, wie in den Jahren 2012-2013. Hinzu kommt, dass Ruanda den kongolesischen Rebellengruppen nur bedingt vertrauen kann.
Was ist Ihre persönliche Vision für einen dauerhaften Frieden in der Region der Großen Seen? Welche Schritte sind Ihrer Meinung nach erforderlich, um den Ostkongo zu befrieden und die Ursachen der Instabilität zu bekämpfen?
Wenn ich diese Antwort wüsste, wäre ich ein reicher Mann! Um ehrlich zu sein, ist Kinshasa der Schuldige. Wie ich kürzlich im Military Strategic Magazine schrieb, muss eine politische Lösung gefunden werden, insbesondere so lange das kongolesische Militär die M23 und die mehr als 100 anderen Rebellengruppen nicht militärisch besiegen kann. Aber nicht nur ein wirkliches Abkommen mit der M23 wäre dringend geboten, sondern eine ernsthafte Reform des Staates, um die Korruption zu bekämpfen und eine verantwortungsvolle Staatsführung zu entwickeln, was zu Vertrauen in die Zentralregierung führen würde. Dieses Misstrauen ist ein Kernelement der Krise, dazu kommt, dass die wirtschaftliche Entwicklung massiv vernachlässigt wurde. Diese Entwicklung muss also gefördert werden und auch die Strukturen des Militärs müssen professionalisiert werden. Die Soldaten bekommen wenig, während die Offiziere Schmiergelder erhalten, all dies ermöglicht einen für das Land und die Menschen extrem ungünstigen Kreislauf.
Sie reisen zwischen Afrika und Europa und haben häufig mit europäischen Politikern zu tun, sind also mit deren offiziellen und inoffiziellen Positionen vertraut. Warum gibt es Ihrer Meinung nach eine so starke Tendenz, die kongolesische Sichtweise zu übernehmen, während die legitimen Sicherheitsbedenken Ruandas oft übersehen werden?
Die Menschen suchen oft nach den einfachsten Antworten auf komplexe Fragen. Es ist einfacher, Ruanda zum Sündenbock zu machen, als sich mit den ernsten Problemen der Unterentwicklung, der katastrophalen Regierungsführung, der Chancenlosigkeit und der massiven Korruption in der DRK zu befassen. Hinzu kommt, dass nur wenige internationale Organisationen zugeben wollen, wenn sie einen Fehler gemacht haben. Das Zulassen einer Integration von ideologisierten Rebellengruppen in das kongolesische Militär war für alle Beteiligten ein großer Fehler.
Das Gespräch führte Benedikt Just. Jonathan Beloff ist Postdoctoral Research Associate am King’s College London’s Department of War Studies. Er hat an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in Politik promoviert und an der New York University einen Master in internationaler Entwicklung und humanitärer Hilfe erworben. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der afrikanischen Region der Großen Seen und Ostafrika, eine Region, die er zu Forschungszwecken häufig bereist.